Von wegen Randregion: Das Wallis wächst schneller als der Rest der Schweiz. Die Industrie schafft Tausende Jobs. Doch für die Zuzüger fehlen Wohnungen, Schulen und Krippen.
Die Kirche des Walliser Bergdorfes St. Niklaus ist in ein Klausgewand gehüllt. Dagegen ist in der Fabrik der Firma Scintilla nebenan nichts von vorweihnachtlicher Besinnlichkeit spürbar. Die 680 Angestellten arbeiten hart, damit täglich eine Million spezialisierte Sägeblätter das Mattertal in alle Welt verlassen kann. «Die Aufträge stauen sich», sagt Werkleiter Michel Imseng (47) zu BLICK. «Wir sind etwa zehn Wochen im Rückstand wegen der hohen Nachfrage.»
Dabei hat die Tochter des deutschen Industrieriesen Bosch eben erst einen Erweiterungsbau eröffnet. Investitionssumme: 32 Millionen Franken. Um 200 Personen kletterte die Zahl der Angestellten in den letzten Jahren nach oben. Für die neuen Hightech-Anlagen braucht es weitere Fachkräfte. Derzeit sind zehn Stellen offen – für Polymechaniker, Instandhalter und in der Produktion.
Mit dem Chef im Achtsamkeitstraining
Hier auf 1120 Metern über Meer findet ein Teil des Walliser Jobwunders statt. Firmen der Region investieren rund drei Milliarden. Dadurch entstehen die nächsten Jahre 4000 Jobs für Fachkräfte!
Wieso sollen etwa hochqualifizierte Leute ausgerechnet nach St. Niklaus zum weltweit führenden Sägeblätter-Produzenten kommen? «Hier herrscht ein spezieller Spirit, und der Erfolg motiviert», sagt Werkleiter Imseng. Obwohl die Personalsuche keine einfache ist, bleibt der hagere Walliser entspannt. Er war eben im Achtsamkeitstraining, das das Unternehmen über Mittag anbietet.
Für den Ausgleich gibts auch Yoga und Halbmarathontraining. «Solche Angebote sind wichtig, um junge Arbeitskräfte anzulocken», ist Imseng überzeugt. «Sie sollen gerne bei uns bleiben.»
Im Achtsamkeitskurs mit Imseng war auch Marie Büeler (38). Die Dänin und Mutter von zwei Kindern ist seit drei Jahren im Verkauf von Scintilla tätig. «In Dänemark sind solche Mittagsangebote für Angestellte normal», sagt Büeler. Den Job im Wallis habe sie auf Facebook gefunden. Es gefällt ihr, in den Bergen zu arbeiten und in die ganze Welt verkaufen zu können.
Eben zugezogen und schon in der Guggenmusik
BLICK zieht 20 Kilometer weiter. Unten auf dem Talboden im Städtchen Visp reiht sich auf dem Gelände des Stammwerks von Pharmazulieferer Lonza nördlich des Bahnhofs Baukran an Baukran. Taxifahrer Alil Bushi (61) langweilt sich nicht. «In Visp haben wir immer genug Kunden. Aber mit den neuen Grossprojekten kommen noch mehr», freut er sich und reibt sich die Hände.
Zu seinen Passagieren gehören viele der neuen Lonza-Mitarbeiter. Lisa Kappler (32), analytische Wissenschaftlerin aus Ravensburg (D), ist eben zugewandert. BLICK trifft sie und zwei Dutzend weitere Neulinge am monatlichen Willkommens-Apéro in der Lonza-Kantine. An regionalen Spezialitäten, Walliser Plättli und Wein, wird nicht gespart. «Ich erfuhr an einem Absolventenanlass an meiner Uni von der offenen Stelle bei Lonza», sagt Kappler.
Der Job und das Umfeld haben die Wissenschaftlerin gleich gepackt. Seit einigen Wochen lebt sie in Visp. «Ich bin bereits einer Guggenmusik beigetreten», strahlt die Trompeterin. Was sie im Moment besonders freut: Ihr Freund, auch aus Deutschland, hat gerade eine Stelle bei Lonza in Visp gefunden – eine von derzeit rund 200 offenen Stellen des Konzerns.
Personalsuche auch im Ausland
Noch Sorgen hat der Australier Angelo Guidolin (58). Seine Frau hat in der Schweiz noch keinen Job gefunden. Sein ehemaliger Chef in Australien sei für eine Stelle ins Wallis umgesiedelt und habe ihn auf die offene Position in der Qualitätssicherung bei Lonza aufmerksam gemacht, erzählt er.
Am Willkommens-Apéro trägt Guidolin seine Sandalen aus Australien. Die Wintermontur hat ihm der Umsiedelungsservice von Lonza, der ihn bei Umzug und Wohnungssuche unterstützte, nicht besorgt. Winterjacke und -schuhe will er noch kaufen. Und: «Mein Ziel ist es, hier Ski fahren zu lernen», führt er aus.
Das grosse Freizeitangebot im Wallis und tiefe Lebenskosten sind wichtige Argumente beim Werben um Fachkräfte. Diese sucht Lonza, die in den nächsten drei Jahren eine Milliarde Franken in den Ausbau investiert, derzeit händeringend. Momentan sind zwei Grossgebäude im Bau. Das erste für 200 Arbeitskräfte wird im Sommer eröffnet. Für den zweiten Komplex sind nochmals mehrere Hundert Jobs vorgesehen. Der Lonza-Standortleiter in Visp, Renzo Cicillini (46), sagt: «Das Problem ist, dass wir dieses Know-how nicht immer in der Schweiz finden.» Darum müsse Lonza weltweit rekrutieren.
Kommt hinzu, dass weitere Unternehmen in der Region massiv investieren und ebenfalls Fachkräfte suchen. Derzeit sind auf der Jobbörse der Internet-Plattform Valais4you rund 1100 Stellen ausgeschrieben.
Rund tausend Krippenplätze benötigt
Doch hält die Infrastruktur – Wohnungen, Schulen, Kinderbetreuung und der öffentliche Verkehr – überhaupt mit dem Jobwunder Wallis mit? «Die ganze Region zieht an einem Strang, da spielt der Berglercharakter mit», führt Cicillini aus. Zur Unterstützung hat das Regions- und Wirtschaftszentrum Oberwallis letztes Jahr das Projekt Wirtschaftswachstum Wallis (Wiwa Wallis) gestartet.
Wegen des Booms braucht das Oberwallis die nächsten Jahre bis zu 1000 neue Krippenplätze. Ausbau ist überall angesagt. Zwar habe Visp über 100 Jahre Erfahrung mit Lonza, sagt Gemeindepräsident Niklaus Furger (66). «Doch das, was jetzt kommt, ist eine besondere Herausforderung – einen Ausbau in dieser Grössenordnung hatten wir bisher noch nie», betont er. Das könne Visp nicht alleine bewältigen. Darum arbeite man im Wirtschaftsförderprojekt eng mit umliegenden Gemeinden und Firmen zusammen.
Laut Furger profitieren nicht nur externe Fachkräfte vom Boom. Lokale Unternehmen erhielten schon während des Baus viele Aufträge. «Wenn es Lonza gut geht, geht es auch der Wirtschaft im Wallis gut.»
Rückkehr statt Auswanderung der Jungen erhofft
Noch vor wenigen Jahren ging es dem Pharmazulieferer schlecht. Hunderte Jobs wurden gestrichen. Was, wenn der Boom vorbei ist? «Die grosse Investition von Lonza ist nachhaltig, weil sie über die nächsten Jahre hinausgeht», zeigt sich Furger überzeugt.
Ängsten über eine Parallelwelt mit englischsprechenden Hochqualifizierten entgegnet der Gemeindepräsident: Das Miteinander gehe gut. «Wir versuchen, die Zugezogenen auch aktiv zu integrieren mit Willkommensanlässen», erklärt Furger.
Auch Cicillini von der Lonza hat ein Interesse an einer längerfristigen Integration der Zuzüger. «Wir wollen die neuen Kollegen und Kolleginnen behalten», betont er.
Bei der jungen Deutschen Lisa Kappler sind die Aussichten gut, dass sie bleibt. Und es ist kein Zufall, dass sie bereits in der Guggenmusik mitspielt. Viele der rund 2000 Vereine in der Region bieten extra Schnupperwochen an für die Zuzüger.
Die letzten 100 Jahre litt das Oberwallis unter dem sogenannten Braindrain, also darunter, dass die Jungen nach der Ausbildung oft in der Deutschschweiz oder anderswo Arbeit suchen mussten. Die neuen hochqualifizierten Arbeitsplätze seien auch eine Chance für junge Oberwalliser. Furger schmunzelt und meint: «Das Wissen kommt ins Wallis zurück.»
Das Oberwallis erwartet die Zuwanderung einer ganzen Stadt
Die Arbeitslosigkeit im Oberwallis liegt deutlich unter dem Schweizer Mittel. Im November betrug die Arbeitslosenquote im Oberwallis 1,2 Prozent, verglichen mit 2,3 Prozent in der gesamten Schweiz. Mit den Milliardeninvestitionen von Lonza, der Matterhorn Gotthard Bahn (1 Milliarde), dem Spital Wallis (385 Millionen) und weiteren Firmen und Organisationen in den nächsten Jahren werden Fachkräfte zur Mangelware.
Von den insgesamt 4000 benötigten Fachkräften dürften viele ihre Familien mitbringen. Zu den derzeit rund 85’000 Einwohnern der Region Oberwallis werden deshalb schätzungsweise bis zu 10’000 weitere hinzukommen.
Um den Boom zu bewältigen, hat das Regions- und Wirtschaftszentrum Oberwallis mit Gemeinden, der Wirtschaft und Organisationen letztes Jahr das Projekt Wirtschaftswachstum Wallis (Wiwa Wallis) gestartet. Für die neuen Arbeitskräfte richtete es vier Welcome-Desks in der Region ein. Eigens für die Fachkräfte wurde zudem die Plattform Valais4you entwickelt. Sie enthält eine Job- und Immobilienbörse und die notwendigen Informationen über Leben und Arbeiten im Wallis.
Die Gemeinden bauen die Kinderbetreuungsangebote, das Spital und die Wohnflächen aus. Visp muss zudem die Wasserversorgung erweitern.
Im Wallis stammen 25 Prozent der Wertschöpfung aus der Industrie mit 21’000 Arbeitsplätzen. Sie wird dominiert von Lonza mit 4000 Mitarbeitern. Weitere globale Unternehmen mit Produktionstätigkeit im Wallis sind der Vitaminkonzern DSM, die Chemiekonzerne BASF und Huntsman, der Medizinaltechnikkonzern Synthes, die Aluminiumverarbeiter Novelis und Constellium, der Elektrowerkzeughersteller Bosch und der Pharmakonzern Debiopharm.
Noch mehr Arbeitsplätze als die Industrie schafft der Walliser Tourismus mit 24’000 Vollzeitstellen. Rund 15 Prozent der Wertschöpfung im Kanton entstehen im Tourismus.
Die Landwirtschaft war bis Mitte der 50er-Jahre der wichtigste Wirtschaftszweig und trägt noch rund drei Prozent zur Wertschöpfung bei. Wichtiger geworden sind Dienstleister wie die Gesundheitsindustrie. Claudia Gnehm