Der Chef einer der grössten Krankenkassen im Land will eine Prämienexplosion durch die Corona-Pandemie verhindern. Groupe-Mutuel-Chef Thomas Boyer fordert im BLICK, die Branche müsse jetzt die für solche einmalige Kostenereignisse vorgesehenen Reserven anzapfen.
Der Chef der Groupe Mutuel, Thomas Boyer (49), erwartet von seinen rund eine Million Krankenkassen-Versicherten in einigen Wochen unzählige Rechnungen für Corona-Behandlungen. Jetzt schon eklatant mehr Anfragen kommen von seinen Firmenkunden. Die Mehrkosten durch die Corona-Pandemie dürfen nicht zu einem Schub bei den Prämien führen, betont Boyer im Gespräch mit BLICK. Von Forderungen, dass der Bund den Krankenkassen jetzt unter die Arme greifen müsse, hält er nichts.
BLICK: Was hören Sie von Ihren 24 000 Firmen-Kunden?
Thomas Boyer: Viele brauchen sofort eine Unterstützung. Darum haben wir eine Million in die Kooperation mit der KMU-Plattform direQt von QoQa investiert, wo Bürger Gutscheine für KMU kaufen können. Zudem haben wir bei eigenen Immobilien die Mietenzahlungen für Geschäftsräume gestundet. Ebenso haben wir die Inkassoverfahren ausgesetzt, für KMU und auch Private. Natürlich sind wir da, um die Krankentaggelder zu bezahlen, wenn die Angestellten krank sind.
Melden die KMU mehr Krankheitstage an?
Im März hat die Zahl der Anfragen in Vergleich zum Vorjahresmonat bereits um 25 bis 30 Prozent zugenommen.
Haben die Krankenkassen genügend Reserven für die Kosten der Pandemie?
Die Groupe Mutuel steht finanziell solid da. Unsere Reserven sind genau dafür da, um ausserordentliche Ereignisse zu decken. Für mich ist eine Pandemie einmalig, das sollte nicht langfristig die Kosten in der Schweiz beeinflussen. Das heisst, wir werden diese Kosten über die Reserven bezahlen müssen. Covid-19 sollte absolut nicht die Prämien beeinflussen.
Halten das die anderen Versicherer auch so?
Was andere tun, weiss ich nicht. Ich würde nicht verstehen, wenn die Mitbewerber das anders machten. Die Prämien sollten die Gesamtkosten des Gesundheitssystems reflektieren und nicht ausserordentliche Ausgaben.
Was halten Sie davon, dass Politiker vom Bund jetzt Geld für die Krankenkassen fordern, weil sonst eine Prämienexplosion drohe?
Das ist nicht sinnvoll. Groupe Mutuel und andere haben Reserven aufgebaut in der Höhe von eins bis zwei Monatsprämien. Das ist genug für ausserordentliche Ereignisse. Es gibt immer wieder Kritik an der Höhe der Reserven. Aber wir müssen glücklich sein, wenn wir solche Reserven haben, die ausserordentliche Kosten decken können.
Sie haben vor Corona gesagt, dass bei Spitälern Sparpotenzial bestehe. Jetzt ist man aber froh um jedes einzelne Spital. Revidieren Sie Ihre Meinung?
Ich denke, diese Debatte können wir nach der Pandemie in Ruhe führen. Aber ich habe nie gesagt, weniger Spitäler und mehr überkantonale Spitalplanung bedeuteten weniger Betten. Die Trends zu mehr Digitalisierung und Spezialisierung im Gesundheitswesen sind auch nach der Notsituation noch aktuell und erfordern eine neue Organisation.
Die Groupe Mutuel hat die Prämien auf dieses Jahr im Schnitt um 1,6 Prozent gesenkt – so stark wie sonst keine Kasse. Was war Ihr Trick?
Im Jahr 2018 blieb das Wachstum der Gesundheitskosten in der Schweiz erstmals stabil. Wir haben mit rund 3 Prozent Zunahme gerechnet, darum haben wir mehr Gewinn erzielt und können dieses Jahr 100 Millionen Franken zurückerstatten.
Sie haben neue digitale Initiativen, zum Beispiel eine gegen Diabetes. Wann kommt das auf den Markt?
Wir planen mehrere Angebote in diesem Bereich. Ich bin überzeugt, als Krankenkasse – ich hasse den Begriff Kranken-Kasse – müssen wir den Kunden neue Dienstleistungen für Prävention etc. anbieten und nicht nur für die Krankheiten aufkommen. Wir starten beim Diabetes-Angebot diese Woche mit der Testphase.
Lassen sich damit Kosten reduzieren?
Mit Prävention kann man Kosten senken. Das wird in der Zukunft ein wichtiges Thema sein. In der Grundversicherung wird die Prävention heute noch zu wenig gedeckt. Aber es ist klar, wenn wir die Qualität der Gesundheitsversorgung beibehalten wollen, wir gleichzeitig länger leben und die Technologie teuer wird, dann werden die Kosten steigen.
Wie kann das System finanzierbar bleiben?
Wir müssen einsparen, wo wir können, um die erwarteten Mehrkosten abzufedern. Sei es bei den Medikamenten, den Spitälern usw. Ich bin für ein neues Prinzip: Immer, wenn wir neue Leistungen in den Katalog der Grundversicherungen aufnehmen, dann sollten wir eine Massnahme definieren, um diese Mehrkosten zu kompensieren.
Der Versicherungskenner
Thomas Boyer (49) ist seit letztem Sommer Chef der Groupe Mutuel. Davor war er seit 2013 bei der Versicherung Mobiliar, zuletzt als Geschäftsleitungsmitglied. Länger tätig war er zudem für Swiss Life und McKinsey. Der Vater von drei Kindern hat einen Master in Betriebswirtschaft von der Uni Lausanne, stammt aus Freiburg und lebt in Genf.