Wirft die Corona-Krise Frauen im Arbeitsmarkt in alte Muster zurück? Wieso Führungspersonen und Gewerkschaften davon überzeugt sind, dass es Fortschritte bei der Gleichstellung und einen Ausbau der Kinderbetreuung unbedingt braucht.
Aus dem Arbeitsmarkt wird durch die Corona-Pandemie ein Krisenmarkt. Nach Fortschritten bei der Gleichstellung drohen nun Rückschritte. Fragen kommen auf: Katapultiert Corona Familien wieder in die 50er-Jahre zurück? Mütter zurück an den Herd? Oder wollen Väter den höheren Betreuungsanteil im Corona-Homeoffice nicht mehr hergeben? Und ermöglichen ihren Partnerinnen künftig vermehrt, ihr Pensum aufzustocken?
So wie es gegenwärtig um die Verteilung der Kinderbetreuung und der Erwerbsarbeit zwischen Frauen und Männern steht, sehen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmerorganisationen Rückschläge für die Gleichstellung. Verbreitete Befürchtungen, dass die Corona-Krise und ihre Folgen für den Arbeitsmarkt auf dem Buckel der Frauen ausgetragen werden, sind für Marco Huwiler (44), Schweiz-Chef des Beratungsunternehmens Accenture, berechtigt. «Weil überdurchschnittlich viele Frauen in der Schweiz Teilzeit arbeiten, haben sie tatsächlich eine Pufferfunktion», sagt Huwiler zu BLICK.
Es sei leider immer noch für viele Teilnehmer der Wirtschaft naheliegender, in der Krise mehr Teilzeitjobs abzubauen als Vollzeitjobs. Er weiss, dass sein Unternehmen – mehr Männer arbeiten bei Accenture Teilzeit als Frauen – in der Schweiz nicht zur Norm gehört.
Nicht nur wirtschaftliches, auch gesellschaftliches Thema
Allerdings sieht er die Schwierigkeiten der Mütter im Arbeitsmarkt und ihre vielen tiefen Teilzeitpensen nicht nur als ein Problem der Wirtschaft. Das sei ein gesellschaftliches Thema. Es brauche eine gerechtere Verteilung von Familienarbeit und Erwerb bei arbeitstätigen Eltern. «Da braucht es Voraussetzungen», sagt Huwiler. Er streicht hervor: Eltern müssten überall Kinderbetreuung in Anspruch nehmen können. Ebenso müssten die Arbeitnehmenden grossflächig die Option von Vaterschaftsurlaub oder Elternzeit haben.
Doch was müssen Unternehmen tun, damit notwendige Einsparungen wegen der Corona-Krise nicht auf Kosten der Gleichstellung gehen? Für Huwiler ist das eine Kulturfrage. «In einem Unternehmen mit gelebter Gleichstellung käme man nicht auf Idee, eine Krise über Frauen zu lösen», sagt er. Weiter: «Aber in der Schweiz ist die Gleichstellung gesellschaftlich noch nicht da, wo sie sein könnte.»
Abbauen ist immer schwierig
In erster Linie müssten Bereiche mit Überkapazitäten genauer angeschaut werden. Die Vorgesetzten sollten sich überlegen, welche Mitarbeiter am wenigsten zum Betrieb beitragen, unabhängig vom Geschlecht. Und nicht, wo es am einfachsten sei, Stellen zu streichen. «Wenn die jetzige Krise auf dem Arbeitsmarkt auf Kosten der Frauen gehe, wäre das nicht überraschend», stellt Huwiler fest.
«Das Risiko eines Backlashs bezüglich Gleichstellung ist real», sagt Regula Bühlmann, Zentralsekretärin Gleichstellung beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB). Sie sieht derzeit akuten Handlungsbedarf bei der Kinderbetreuung. Wie es mit Corona weitergehe, sei nicht klar. Grosseltern, die 33 Prozent der Kinder unter 13 Jahren betreuen, sollten nicht mehr als unentbehrlicher Teil der Vereinbarkeit von Beruf und Familie eingesetzt werden, sondern nur als zusätzliche Kinderbetreuung.
Kein reduziertes Pensum dank Corona-Elternurlaub
«Müssen die Eltern wegen Corona wieder selber die Betreuung übernehmen, ist die Gefahr gross, dass es vor allem Frauen sein werden, die dafür ihr Pensum reduzieren oder den Job ganz aufgeben», so Bühlmann. Bis jetzt hätten der Corona-Elternurlaub und kurzfristige Lösungen zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen Pensenreduktionen und Kündigungen im grossen Stil verhindert.
Der SGB fordert mit einer Koalition von fast 40 Organisationen für den Lockdown-Ausstieg eine Stärkung der Kinderbetreuung. Dazu gehöre der Ausbau des Angebots in Kindertagesstätten und Horten, die bisher 32 Prozent aller Kinder bis 12 Jahre betreuen. Die öffentliche Hand müsse dafür sorgen, dass es für die Eltern bezahlbar sei. Zudem sollen Beruf und Kinderbetreuung wieder entflochten werden.
Abtretende Adecco-Chefin fordert mehr Tagesschulen
Diese Forderungen decken sich mit jenen von Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt (59). «Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in der Schweiz nachweislich ungenügend ausgebaut und für viele Familien zu teuer», sagt Vogt der «NZZ am Sonntag». Und: «Für uns Arbeitgeber ist deshalb klar, dass der Staat qualitativ gute und finanziell attraktive Kinderdrittbetreuungsangebote sicherstellen muss.»
Die abtretende Adecco-Schweiz-Chefin Nicole Burth Tschudi (49) hat eine klare Meinung zur Betreuung: «Wir brauchen dringender denn je schweizweite Schulstrukturen in Form von Tagesschulen.» Die Corona-Krise habe gezeigt, wie wichtig die Betreuungskomponente innerhalb des Unterrichts sei. Kinder sollen nicht nur viel lernen, sondern auch gut betreut sein. «Nur Tagesschulen garantieren hier, dass alle Kinder gleich gut betreut werden und keine sozialen Unterschiede entstehen», betont sie.
Digitalunterricht soll normaler Teil der Schule werden
Im Gegensatz zur Schweizer Wirtschaft, die relativ schnell auf Homeoffice umstellte, sei das Schweizer Schulsystem nicht auf den Fernunterricht vorbereitet gewesen. Das findet Accenture-Chef Marco Huwiler (44). Immerhin seien viele Lehrpersonen damit kreativ umgegangen, aber das Bildungssystem müsse daraus lernen. «Der Digitalunterricht sollte nun im Schulunterricht relativ früh eingebaut werden», fordert er. Auch ein Notfall-Lehrplan für Digitalunterricht sollte bereitgestellt werden.
In den Wochen des Fernunterrichts mit ihren Töchtern hätte sie sich mehr digitalen Frontalunterricht und Struktur gewünscht, erklärt Noch-Adecco-Schweiz-Chefin Nicole Burth Tschudi (49). Statt eines Flickenteppichs von kommunalen hätte sie sich einheitlichere, schweizweite oder kantonale Lösungen erhofft. So hätten alle Klassen im Kanton gemeinsam pro Schuljahr einen Streaming-Kanal einrichten können.
Sie fordert: «Der digitale Frontalunterricht sollte fix ins Schulsystem eingebaut werden, etwa mittels Einführung eines digitalen Schultags pro Monat, und zwar ohne Beisein der Eltern.»