Preisüberwacher Stefan Meierhans befürchtet, dass Millionen Steuergelder für die ÖV-Branche verpuffen. Die Corona-Hilfe dürfe nur gesprochen werden, wenn die ÖV-Angebote den geänderten Bedürfnissen angepasst würden, sagt er vor dem Parlamentsentscheid nächste Woche.
Eine ordentliche Begrüssung in seinem Berner Büro fällt flach. Stattdessen stellt der Preisüberwacher gleich eine Frage. Ob der Zug von Zürich nach Bern in der Stosszeit am Morgen ausgelastet war, will Stefan Meierhans (52) sofort wissen. Trotz Hauptverkehrszeit war gemäss BLICK-Schätzung nur ein Drittel der Plätze belegt.
Die tiefe Auslastung seit dem Lockdown bereitet Meierhans grosse Sorgen. Gerade jetzt, wo die Wintermonate mit Grippe und Corona anstehen und viele Angestellte im Homeoffice bleiben. SBB & Co. müssten dringend mehr flexible Angebote und zeitgemässe Tarifmodelle einführen, sprudelt es aus ihm heraus. Wenn noch mehr Passagiere aufs Auto umsteigen und auf den ÖV verzichten, weil sich etwa ein GA nicht mehr lohnt, sinken die Einnahmen weiter. Die Folge: Preiserhöhungen.
Das will Meierhans vermeiden. Klar hat er ein paar Ideen und Forderungen parat, wie der ÖV dazu gebracht werden kann, die Kunden zurückzugewinnen und gleichzeitig das Auslastungsproblem zu lösen.
BLICK: Der Bundesrat will den ÖV mit rund 300 Millionen Franken unterstützen. Das Parlament entscheidet darüber nächste Woche. Was halten Sie davon?
Stefan Meierhans: Ich bin erstaunt, dass man einfach dreistellige Millionenbeträge durchwinken will. Warum verbindet man das nicht mit einer Erwartung? Die vielen Steuergelder, die gesprochen werden, sollten an eine Bedingung geknüpft werden. Der öffentliche Verkehr könnte beispielsweise dazu verpflichtet werden, sich auf die geänderten Lebensrealitäten auszurichten und neue flexible Angebote zu schaffen.
Ist das noch nicht der Fall?
Das Gegenteil passiert. Mit dem Fahrplanwechsel Ende Jahr wird die Mindestlaufzeit des GA von vier auf sechs Monate angehoben. Das heisst, man kann das GA erst zwei Monate später kündigen. Die finanzielle Mindestverpflichtung steigt dementsprechend. Damit werden die Kunden gefesselt. Diese Strategie ist nicht im Sinne der Kunden.
Haben Sie ein Beispiel für sinnvolle flexible Angebote?
Die Wintermonate mit Corona stehen vor der Tür. GA-Besitzer, die mehr im Homeoffice sind, fragen sich, ob es sich überhaupt noch lohnt, das GA zu erneuern. Hier drängt sich zum Beispiel ein Homeoffice-GA auf mit zwei oder drei Tagen freier Fahrt pro Woche.
Was macht Sie so sicher, dass die Verhaltensänderungen nicht in einem Jahr wieder verflogen sind?
Vor der Corona-Krise glaubte man, breitflächiges Homeoffice sei nicht möglich. Geschäftsleitende lehnten das zumeist ab. Doch nachdem man dazu gezwungen wurde, funktioniert es plötzlich. Experten gehen nicht davon aus, dass diese neuen Gewohnheiten wieder gebrochen werden. Natürlich werden wahrscheinlich nicht alle von uns jeden Tag im Homeoffice sein.
Sondern?
Statt jeden Tag zu pendeln, werden Arbeitnehmer womöglich künftig vermehrt von zu Hause aus arbeiten. Die ÖV-Branche sollte sich auf diese neuen Realitäten ausrichten und flexible Angebote bereitstellen. Heute ist die ÖV-Branche nicht bereit für die Welt nach Corona.
Sind die ÖV-Firmen technisch überhaupt fit für solche Angebote?
Die technischen Möglichkeiten übersteigen heute den Gestaltungswillen der Branche. Das Tarifsystem sollte so funktionieren, wie wenn man zum Metzger geht: Man bestellt etwas und erhält, was man will – und am Ende bezahlt man dafür. Beim ÖV muss man für Leistungen im Voraus zahlen – besonders, wenn man ein Abo hat. Die Kunden übernehmen damit ein Risiko und haben Pech, wenn Leistungen gestrichen werden, wie jetzt wegen des Lokführer-Mangels.
Ist das im ÖV so einfach wie beim Metzger?
Fragen Sie mal bei Fairtiq, dem Marktführer für digitale Lösungen, nach. Das Berner Unternehmen bietet weltweit Postpay-Lösungen an, das heisst, man zahlt nach Nutzung. Die niedrigsten Preise auszuwählen, den Best Price, und eine Abo-Grenze einzubauen – bis hierhin zahlst du, mehr schuldest du nicht –, ist heute keine Frage der Technik, sondern des Wollens der Branche.
Lösen flexiblere Angebote auch das Auslastungsproblem der ÖV-Branche?
Wenn man mit attraktiven Angeboten mehr Kunden gewinnt, hilft das, die sowieso anfallenden Fixkosten zu decken. Heute liegt die durchschnittliche Auslastung der Züge bei rund 30 Prozent. Wenn man die Kosten auf mehr Schultern verteilen kann, hilft das, die Preise attraktiv gestalten zu können. Deshalb sind niederschwellige Angebote wie Sparbillette im Freizeitverkehr und für Gelegenheitsfahrer so interessant. Sie führen zu Mehrverkehr zur richtigen Zeit. Deshalb sollten sie auch – zumindest auf den Fernverkehrsstrecken – innerhalb der Verkehrsverbünde erhältlich sein.
Sind sie das nicht?
Nein. Leider sehen viele Verbünde, allen voran der Zürcher ZVV, die Vorteile dieses Angebots noch nicht.
Mit welchem Argument?
Der ZVV sagt, dass Sparbillette mit bis zu 70 Prozent Rabatt, aber ohne nennenswerte Wirkung regelrecht verhökert würden. Ich dagegen sehe vor allem eine nennenswerte Wirkung: mehr Auslastung.
Führen flexible Abos zur Ausdünnung der sonst schon schwach ausgelasteten Verbindungen in die Täler etc.?
Die Kantone bestellen den Regionalverkehr, und es gibt eine Defizitgarantie. Wenn der politische Wille da ist, dann werden auch nur zu wenigen Prozenten gedeckte Zahnradbahnen wie in meiner Heimat in Altstätten SG finanziert. Aber man muss sich ganz grundsätzlich überlegen, was mit dem ÖV passiert, wenn künftig selbstfahrende Elektroautos in abgelegene Regionen günstige Punkt-zu-Punkt-Verbindungen anbieten.
Womit rechnen Sie?
Viele Dinge im ÖV werden langsam, aber sicher obsolet. In Zeiten von GPS muss niemand mehr wissen, wie die Haltestelle heisst, an der er steht. Zonen waren über Jahre ein hilfreiches Konstrukt, weil es das komplexe System vereinfachte. Ob es diese Vereinfachung in einer Welt des automatischen Ticketings noch braucht, ist eine Frage, die man stellen muss. Kurzum: Wenn der ÖV jetzt nicht anfängt, zeitgemässe Tarifmodelle und Abonnemente anzubieten, dann wird er von neuen flexiblen Konkurrenten überholt.
Können flexible Preismodelle eine Billett- oder Abo-Teuerung verhindern?
Wenn der ÖV so attraktiv gemacht wird, dass die Auslastung steigt und die Kosten von mehr Kunden geschultert werden, dann hat die ÖV-Branche mehr Einnahmen und der einzelne Kunde zahlt weniger. Aber natürlich sind weitere Strukturverbesserungen notwendig.
An welche denken Sie?
Es fragt sich, ob es in der Schweiz 200 ÖV-Unternehmungen braucht, 200 Verwaltungsräte, 200 Personalabteilungen usw. Die Bahnen könnten zudem zusammen Züge beschaffen. Da gäbe es möglicherweise weiteres Synergiepotenzial. Es ist kein grosser Unterschied, ob ich in einem gelben oder blauen Zug am Ziel ankomme.
Kann man die Pendlerspitzen in der Schweiz mit Preisanreizen wirklich glätten?
Wir haben nach wie vor eine tiefe durchschnittliche Auslastung von unter 30 Prozent im ÖV. Spitzen brechen ist also ein wichtiges Ziel. Attraktive Produkte halte ich für die Lenkung geeigneter als etwa «Strafpreise» zu Zeiten des Stossverkehrs. Es kann nicht sein, dass eine Verkäuferin, welche zum Stossverkehr zur Arbeit pendeln muss, finanziell dafür bestraft wird. Vielmehr sollten finanzielle Anreize für jene geschaffen werden, die zeitlich flexibel sind.
Bund will ÖV unter die Räder greifen
Der Bundesrat will den öffentlichen Verkehr (ÖV) und den Schienengüterverkehr in der Corona-Krise mit über 700 Millionen Franken unterstützen. Gemäss der Botschaft, die das Parlament nächste Woche behandelt, sollen im regionalen Personenverkehr die Defizite für das laufende Jahr gedeckt werden. Der vorgesehene Bundesanteil beträgt rund 290 Millionen Franken.
Die Verkehrskommission des Nationalrats empfiehlt, dass auch die Linien des touristischen Verkehrs profitieren sollen, auf welchen das Generalabonnement gilt. Zudem sollen Unternehmen, welche Beiträge erhalten, in den Geschäftsjahren 2020 und 2021 keine Dividende ausschütten können. Unterstützt werden soll ausserdem der Autoverlad mit einem A-fonds-perdu-Beitrag.
Der Bundesrat begründet die Geldspritze mit der Bundesratsempfehlung, während des Corona-Lockdowns möglichst zu Hause zu bleiben. Die Nachfrage im ÖV sank in der Folge um bis zu 80 Prozent. Mit der Unterstützung soll verhindert werden, dass Transportangebote als direkte Folge der Krise eingeschränkt werden müssen. Claudia Gnehm
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