Arbeitsmarktexperte George Sheldon räumt mit dem Mythos auf, dass der Schweizer Arbeitsmarkt für Deutsche nicht mehr attraktiv ist. Er ist überzeugt, dass die Schweiz weniger Fachkräfte «importieren» müsste, wenn das Potenzial der Frauen besser erschlossen würde.
Der Schweizer Arbeitsmarkt zeigt sich in blendender Verfassung. So auch George Sheldon mit seinen 71 Jahren. Der Arbeitsmarktexperte der Universität Basel ist von seinem Job so begeistert wie eh und je. «Niemand würde freiwillig über das Pensionsalter hinaus arbeiten, wenn die Aufgabe nicht spannend wäre», sagt der emeritierte Professor. Darauf angesprochen, ob die Vollbeschäftigung von Dauer sei, wird er ernst. Die Frage sei, wie viele Menschen der Arbeitsmarkt noch aufnehmen könne.
BLICK: Die Arbeitslosenquote lag im März so tief wie seit zehn Jahren nicht mehr. Erwarten Sie einen weiteren Rückgang?
George Sheldon: Nein. Zwar dürfte die Arbeitslosenquote in den saisonal schwankenden Branchen wie im Bau und im Gastgewerbe in den Sommermonaten weiter zurückgehen. Doch saisonbereinigt sehen wir seit letztem Juni, dass die Arbeitslosenquote nicht unter 2,4 Prozent fallen wird.
Die Prognose des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) von 2 Prozent im Sommer ist also zu optimistisch?
Saisonbereinigt wird die Quote nicht mehr weiter fallen. Das schliesst aber nicht aus, dass sie saisonbedingt etwas abrutscht.
Dann befinden wir uns punkto Arbeitsmarkt im Paradies?
Von paradiesischen Zuständen würde ich nicht sprechen. Der Schweizer Arbeitsmarkt ist momentan aber in einer guten Verfassung.
Was ist Ihre Prognose für das Gesamtjahr?
Für 2019 hat das Seco eine Quote von 2,4 Prozent vorausgesagt. Das liegt womöglich drin. Aber tiefer wird die Quote nicht fallen. Wir haben eine zehnjährige Konjunkturerholung hinter uns. In Kontinentaleuropa ist die Erholung nicht so stark gewesen, Deutschland und die Schweiz sind die Ausnahmen. Die Luft ist draussen – unter 2,4 Prozent fällt die Arbeitslosenquote nicht. Es sei denn, die Konjunkturlage verbessert sich. Aber da gibt es keine Anzeichen.
Viele Ökonomen erwarten eine Wachstumsverlangsamung, gar eine Rezession. Ist das Schwarzmalerei?
Die Erholung geht zu Ende. Das heisst aber nicht, dass es unbedingt einen Abschwung geben wird. Das Bruttoinlandprodukt war im vierten Quartal ziemlich flach. Die Produktion bewegte sich seitwärts. Im nahen Ausland gibt es Anzeichen für einen Abschwung. Der ist noch nicht so richtig eingetreten. Aber die Dynamik ist nicht mehr da.
Wie beurteilen Sie die hohe Arbeitslosenquote im Gastgewerbe?
Die Arbeitslosigkeit ist so hoch, weil die Gastronomie wie die Baubranche ein instabiles Beschäftigungsfeld ist. Doch die Arbeitslosendauer ist vergleichsweise kurz. Deshalb ist diese Arbeitslosenquote nicht so bedenklich. Die Betroffenen finden schnell neue Jobs.
Die Stellenmeldepflicht richtet sich aber nach der Höhe der Arbeitslosenquote. Ist das sinnvoll?
Nein, das ist sinnlos. Denn es kommt auf die Dauer der Stellensuche an. Diese kann man an der Höhe der Arbeitslosigkeit nicht ablesen.
Wieso nimmt der Fachkräftemangel trotz vielen Arbeitslosen zu?
Heute sind 15 Prozent der Berufstätigen niedrig qualifiziert. Das ist zwar deutlich weniger als in den 70er-Jahren, als 40 Prozent der Berufstätigen ohne Berufsbildung waren. Aber es gibt nach wie vor ein Überangebot von niedrig Qualifizierten. Das ist ein Phänomen in allen OECD-Ländern. 40 Prozent der Arbeitslosen in der Schweiz sind niedrig qualifiziert.
Ist der Arbeitsmarkt ausgetrocknet?
Dank der Personenfreizügigkeit stösst die Schweiz nicht an eine Grenze. Das ist wie ein Druckventil: Wenn man die Arbeitskräfte nicht vor Ort findet, kann man international ausschreiben.
Allerdings ist die Schweiz nicht mehr so attraktiv wie auch schon – es kommen weniger Deutsche.
Das sagt man so. Tatsächlich kommen nach wie vor die Deutschen in die Schweiz, die Polen nach Deutschland und die Ukrainer nach Polen – das ist wie eine Nahrungskette. Die Wanderungsbilanz bei den Akademikern in Deutschland ist negativ – das heisst, es wandern mehr aus als zu.
Dann ist es gar nicht so, dass die Deutschen nicht mehr kommen?
Die Überlegung, dass die Konjunktur in Deutschland anzieht und wir deshalb Schwierigkeiten haben werden, deutsche Arbeitskräfte zu rekrutieren, ist zwar logisch. Aber die Zahlen sagen etwas anderes. Die Zuwanderung in die Schweiz bleibt attraktiv.
Welchen Beitrag leisten die Frauen zur Minderung des Fachkräftemangels?
Die Erwerbsbeteiligung der Schweizerinnen hat seit den 70er-Jahren um bis zu 40 Prozentpunkte zugenommen.
Können sie das Fachkräfteproblem lindern?
Um Familie und Beruf zu vereinbaren, arbeiten viele Frauen Teilzeit. Wenn man Kinderbetreuung ausbauen oder kostengünstiger anbieten würde, dann wären sicherlich mehr Frauen bereit, Vollzeit zu arbeiten. Wenn sie gut qualifiziert sind und nicht Vollzeit arbeiten, ist das brachliegendes Potenzial. Mehr Frauen im Arbeitsmarkt sind eine Möglichkeit, die Zuwanderung zu bremsen.
Aber?
Die hochqualifizierten Personen, die im Ausland rekrutiert werden, haben mehrheitlich Mint-Berufe, also Qualifikationen in Mathematik, Naturwissenschaft und Technik. Traditionell bringen die Frauen diese Qualifikationen meist nicht mit.
Warum studieren Frauen in Ländern wie Indien viel häufiger Mint-Fächer?
In der Schweiz und in vielen hochentwickelten Ländern, wo die Studiengebühren nicht sehr hoch sind, orientieren sich die Jungen bei der Berufswahl nicht besonders stark nach dem Arbeitsmarkt.
Die Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigt viele. Die Post will die Effizienz steigern, indem sie die Pöstler überwacht.
Natürlich können sich Arbeitgeber mit Software in eine Situation bringen, die man ausbeuterisch nennen könnte. Aber diese Gig-Wirtschaft, die wie etwa Uber Jobs ohne festen Arbeitsvertrag bietet, ist ein rechtliches Problem. Die grosse Frage ist, ob diese Personen angestellt sind oder selbständig. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
Aber eigentlich ist die Gig-Wirtschaft ein Outsourcing für billigereArbeitskräfte.
Natürlich ist es das Bestreben eines Unternehmens, Gewinn zu erzielen. Entweder kann es ein Produkt oder eine Dienstleistung als einziges anbieten, oder es produziert günstiger als die anderen. Dieser Druck ist immer da. Höhere Produktivität führt zu Wohlstand. Aber es können auch einzelne Menschen unter die Räder kommen, und dafür hat man Arbeitsschutzgesetze. Diese müssen wegen der Digitalisierung angepasst werden.
Hat die Berufslehre im Zeitalter der Digitalisierung noch eine Zukunft?
Durchaus. Wenn aber das Verhalten bei der Bildungswahl der Jugendlichen gleich bleibt wie zwischen 2005 und 2010, werden bis 2050 60 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer einen akademischen Abschluss haben.
Dann hat die Berufslehre also doch ausgedient.
Nein. Wenn 60 Prozent einen akademischen Abschluss haben, dann dürfte die Lehre finanziell attraktiver werden. Es gibt auf jeden Fall Platz für Handwerker. Wenn der Wohlstand zunimmt, dann steigt die Nachfrage nach massgeschneidertem Handwerk. Ikea reicht dann nicht mehr aus.
Sie zeigen mit Ihrem Beispiel, dass man problemlos länger arbeiten kann als bis 65.
An der Universität Basel gibt es emeritierte Professoren, die sieht man nie wieder, während andere weiterarbeiten. Es hat etwas mit der Tätigkeit zu tun. Jetzt habe ich keine Vorlesungen mehr, ich kann mit Doktorierenden zusammenarbeiten oder selber forschen. Da ist sehr angenehm.
Wollten Sie schon immer so lange arbeiten?
Als ich den Beruf gewählt habe, habe ich nie daran gedacht, dass ich über 65 arbeiten werde. Ich habe aber den Luxus, mich Schritt für Schritt aus dem Erwerbsleben zurückziehen zu können. Es gibt Leute, die haben ein Burnout erlebt, das hatte ich nie. Mein Beruf füllt mich absolut aus und ist spannend. Darum mache ich gerne weiter, aber wesentlich reduziert.
Wenn die Arbeitgeber wollen, dass die Leute länger arbeiten, müssen sie also spannende Aufgaben bieten?
Was als spannend gilt, ist Ansichtssache. Aber wenn der Job nicht spannend ist, dann arbeitet niemand freiwillig nach dem Pensionsalter. Geholfen hat auch, dass mein Körper bei der Arbeit nicht kaputt gegangen ist, und auch mein Rückgrat ist gesund, Gott sei Dank.
Der Ewigarbeiter
George Sheldon ist emeritierter Wirtschaftsprofessor an der Uni Basel und Leiter der Forschungsstelle für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomik am Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum. 1970 wanderte er aus den USA aus, seit 1988 lehrt er in Basel. Der 71-Jährige gehört zu den gefragtesten Arbeitsmarktexperten. Er lebt in Freiburg im Breisgau (D).
Am meisten Jobs schafft die Uhrenindustrie
Auch dieses Jahr wird die Uhrenindustrie in der Schweiz am meisten Jobs schaffen, wie das Wirtschaftsforschungsinstitut BAK Basel Economics am Donnerstag mitteilte. Die Ökonomen gehen heuer von einer Steigerung der Beschäftigtenzahlen um 0,8 Prozent aus, verglichen mit dem Rekordplus von 1,8 Prozent letztes Jahr. Die These, dass über 55-Jährige im Arbeitsmarkt vor besonderen Herausforderungen stünden, wird von den Statistiken laut BAK-Chefökonom Martin Eichler nicht gestützt. Immer mehr Schwierigkeiten bei der Stellensuche hätten dagegen Tiefqualifizierte.