SonntagsZeitung,

Lebenslänglich in der Armutsfalle

Linda Tirado, 32: Mutter zweier Töchter, für die sie keine grosse Zukunft sieht Foto: Scott Suchman/«The Guardian»

Buchautorin Linda Tirado, selber eine «Working Poor», klagt an: Die Undurchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten wird immer grösser.

Claudia Gnehm

Bern Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst – weltweit. So hat sich das Vermögen der reichsten 85 Milliardäre laut der Hilfsorganisation Oxfam seit letztem Jahr um 14 Prozent auf 224 Milliarden Dollar erhöht. Die Schweiz steht an der Spitze der Vermögenszunahmen. Laut dem Credit Suisse Global Wealth Databook 2014 hat sie unter den Industriestaaten die grösste Vermögensungleichheit. Nur in den USA besitzen die reichsten 10 Prozent einen noch höheren Anteil am Gesamtvermögen (siehe Tabelle).

Anders sieht die Situation bei den verfügbaren Einkommen aus. In Spanien und Griechenland klafft die Schere weiter auseinander als in der Schweiz. In Deutschland, Schweden und Finnland hingegen sind die Einkommensunterschiede geringer. Laut dem französischen Ökonomen Thomas Piketty ist die Ungleichheit der Vermögen in Europa und den USA ungefähr doppelt so gross wie die Ungleichheit der Einkommen.

Der Basler Soziologe Ueli Mäder sieht für die Schweiz eine klare Entwicklung: «Bei den freien verfügbaren Einkommen und vor allem bei den steuerbaren Nettovermögen zeigen sich seit 1989 deutliche und teilweise zunehmende soziale Unterschiede.»

US-Präsident Barack Obama warnte letztes Jahr eindringlich davor, dass die zunehmende Ungleichheit und die sinkenden sozialen Aufstiegschancen die USA in ihren Grundfesten erschüttere. Die Chance, die eigene Lebenssituation zu verbessern, sei für Kinder in den USA kleiner als für Kinder in Ländern wie Kanada, Deutschland und Frankreich. «Ein Kind, das in eine Familie der 20 Prozent der Reichsten geboren wurde, hat 60 Prozent Chancen, an der Spitze zu bleiben», sagte Obama. Ein Kind aus den unteren 20 Prozent habe nur 5 Prozent Chancen, die Spitze zu erreichen.

Sie stand um 6 Uhr auf und fiel um 3 Uhr nachts ins Bett

Diese Immobilität hat sich seit der Finanzkrise verschärft – das zeigt sich nicht nur im erschwerten Aufstieg innerhalb der Einkommens- und Vermögensklassen, sondern auch bei Bildungsindikatoren. So investierten die 10 Prozent der reichsten US-Familien während der Finanzkrise 35 Prozent mehr in die Ausbildung ihrer Kinder. Die Bildungsausgaben bei den restlichen 90 Prozent stagnierten hingegen.

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass kurz vor Obamas Rede erstmals eine Working Poor landesweit Gehör fand. Linda Tirado aus Cedar City, Utah, beschrieb eindrücklich, wie es dem Viertel der Amerikaner geht, die in der Armutsfalle stecken. Tirado, 32, brach Tabus. An die Zukunft ihrer Töchter glaubt sie nicht. «Mit einem Schulabschluss aus dem ärmsten Distrikt des Landes werden sie keine Ärzte und Anwälte», schrieb sie. Sie würden versuchen, ihre Selbstachtung zu wahren, obwohl sie nur 7 Dollar pro Stunde verdienten. «Ich bereite die Mädchen darauf vor, die Klappe zu halten, während ein Idiot sie rumbefiehlt.»

Ein Chatforum machte sie bekannt. Wieso die Armen selbstzerstörerisch lebten, fragte jemand. Tirado dachte, darüber könne sie Auskunft geben. «Ich treffe schlechte finanzielle Entscheidungen: Es lohnt sich nicht, stets ein wenig Geld zu sparen für einen Grosskauf, weil ich mir nie was Grosses leisten kann.» Sie arbeitete in zwei Tieflohnjobs, dazwischen holte sie ihre zwei Töchter von der Schule und ihren Mann von der Arbeit ab. In der Früh drückte sie für eine Weiterbildung die Schulbank. Sie stand um 6 Uhr auf und fiel um 3 Uhr nachts ins Bett.

Die «Huffington Post» veröffentlichte ihren Chatartikel, es folgten «Forbes» und «The Nation». Tirado wurde darauf kritisiert, sie sei nicht so arm, sondern ein reiches Mädchen mit reicher Fantasie. Tirado sandte ihren Sozialhilfe-Bericht der «Washington Post» und filmte ihre verrotteten Zähne. Die Kritik verstummte.

Fälle wie Linda Tirado nehmen zu in entwickelten Staaten. Wegen der steigenden Undurchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten hat die britische Regierung eine «Social Mobility Commission» eingesetzt. Laut der Kommission ist die Chance der Privilegiertesten, es an eine Universität zu schaffen, sechsmal höher als die Chancen der weniger Privilegierten.

Aufgrund der dünnen Datenlage lässt sich die soziale Mobilität in der Schweiz schwer durchleuchten. Die vorhandenen Studien kommen zum gleichen Fazit: Während sich die soziale Mobilität im letzten Jahrhundert in Ländern wie Schweden, Holland und Frankreich klar erhöhte, gab es hierzulande keine markante Veränderung. Seit der Finanzkrise machen sich in der Schweiz amerikanische Verhältnisse breit.

Die Herkunft wird ausschlaggebender für den Wohlstand, so Ben Jann von der Universität Bern. In seiner Untersuchung «Zur Entwicklung der intergenerationalen Mobilität» steht: «Bei den heute 50- bis 60-jährigen Frauen finden wir einen Rückgang des Einflusses der sozialen Herkunft auf die erreichte Bildung und die erreichte soziale Klasse. Danach scheinen die Herkunftseffekte wieder zuzunehmen.»

Bei Männern zwischen 50 und 60 Jahren zeigte sich, dass ihre Herkunft keinen Einfluss auf ihr Bildungsniveau hat. Bei jüngeren Männern ist das Bildungsniveau nun aber wieder stärker von der Herkunft beeinflusst.

Soziologe Mäder bekräftigt die Trends: «Bei migrierten Familien mit mittleren Einkommen ist die soziale Mobilität relativ gering.» Kinder von wohlhabenden Eltern hätten heute generell gute Chancen, den Level zu halten. Bei Familien mit niedrigen Löhnen kumulierten sich mangelndes Einkommen und geringere Bildungschancen. Er erwartet: «In den nächsten fünf Jahren dürfte sich die soziale Brisanz bei den Einkommen, Vermögen und der Bildung eher verschärfen.» Eine Ursache sei, dass seit 2004 der Anteil aller Sozialleistungen am Bruttoinlandprodukt tendenziell abgenommen hat. Teile der untersten 10 Prozent müssten seit den 1990er-Jahren zurückbuchstabieren. «Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt.»

„Wir Armen sind uns bewusst, dass wir nicht Kinder haben, sondern uns vermehren. Niemand mag die Repro- ­duk­tion der Armen, aber fürs Abtreiben werden sie noch mehr verurteilt.“

„Ich bin nicht schön. Zähne fehlen mir, und meiner Haut sieht man an, dass ich nicht schlafe und von Nikotin und Koffein lebe. Rauchen ist teuer, aber es regt mich an, wenn ich erschöpft bin, ich bin immer erschöpft.“

Auszüge aus dem Ende 2014 publizierten Buch «Hand to Mouth» vom Penguin-Verlag. Darin erweiterte Linda Tirado ihren Chatforum-Artikel.


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