In der Corona-Krise brachten die Online-Bestellungen Ikea Schweiz an die Grenze. Seit der Lockerung kaufen die Kunden die Regale leer. Die neue Ikea-Schweiz-Chefin Jessica Anderen erklärt, wieso sie weiter auf Influencer und Läden setzt.
Sie arbeitete für Ikea in Hongkong, China, Singapur, Australien und Schweden. Nun ist die Schwedin Jessica Anderen (50) Chefin von Ikea Schweiz. Ist ihr das nicht zu ruhig und zu langweilig? «Nein, gar nicht», findet die Ökonomin und Mutter von zwei Teenagern. Ein gesättigter Markt mit hohen Ansprüchen sei eine spannende Herausforderung. Schwer tut sich Anderen, die mindestens so temperamentvoll spricht wie ihre italienische Vorgängerin Simona Scarpaleggia (59), derzeit damit, dass sie zu ihren Mitarbeitern Abstand halten muss. Ikea sei eine sehr herzliche Firma. Darum sei es sehr schwierig, einander nicht zu umarmen, sagt sie.
Wie erlebten Sie den Ansturm bei der Wiedereröffnung nach dem Lockdown?
Jessica Anderen: Der Andrang war so überwältigend wie bei einer Neueröffnung. Die Kunden haben geklatscht, einige haben getanzt. Das Interesse war erstaunlich.
War das der Nachholbedarf nach acht Wochen Lockdown?
Mehr als das. In den Wochen zu Hause hatten die Menschen Zeit, sich mit ihren eigenen vier Wänden zu befassen. Sie haben sich überlegt, was sie verbessern könnten.
Waren im Lockdown andere Möbel gefragt als sonst?
Unsere starken Bereiche wie Schlafzimmer oder Sofas liefen auch online sehr gut. Viel mehr als sonst liefen die Bereiche Küche, Homeoffice und Schreibutensilien für Kinder. Eine Woche nach der Wiedereröffnung waren unsere Regale mit Backutensilien leer gekauft.
Hatten Sie nicht genug Ware an Lager?
In einigen Bereichen hatten wir die Nachfrage unterschätzt und waren ausgeschossen. Der grosse Absatz an Kuchenformen oder Töpfen findet normalerweise in der Weihnachtszeit statt und nicht im Sommer.
Kann das Angebot die Nachfrage derzeit wieder decken?
Ja, fast überall. Wir wurden von unserem eigenen Erfolg überrollt. Auch meine Kinder haben mehr gebacken als sonst und sogar zusammen gekocht. Rezepte auf Social Media haben die Kunden zusätzlich inspiriert. Deshalb kam es zu Engpässen. Ich möchte den Kunden für ihre Geduld danken.
Für die Lieferung der Onlinebestellung eines Pults und Stuhls dauerte es im April zwei Monate. Braucht man immer noch so viel Geduld?
Wir wurden online überrannt. Im März hatten wir innert vier bis fünf Tagen in allen Läden ausserhalb des Tessins ein neues kontaktloses Pick-up-System eingeführt. Plötzlich sehr gefragt war auch das Collect-Box-System, das wir letztes Jahr einführten. Das bedeutet ein Zugang innert 48 Stunden.
Für all diejenigen, die ein Auto haben …
Unser Ziel ist eine Heimlieferung innert drei bis sechs Tagen. Aber weil immer weniger mit dem Auto einkaufen, testen wir auch neue Abholpunkte in den Städten.
Ist der Anteil an den Onlinekäufen seit Ende des Lockdowns wieder zurückgegangen?
Derzeit läuft es online sowie in den Läden sehr gut. Der Umsatzanteil des Onlinegeschäfts erhöhte sich von neun Prozent letztes Jahr auf 17 Prozent. Das ist, was wir die nächsten zwei Jahre erreichen wollten. Bis Ende Jahr rechnen wir mit einer Stabilisierung bei 13 Prozent. Die Corona-Zeit hat Ikea und das Kundenverhalten in der Schweiz innert Kürze verändert. Auch Convenience und Nachhaltigkeit sind wichtiger geworden.
Erzielen Sie dieses Geschäftsjahr trotz Corona-Einbruch ein Wachstum?
Wir hatten eine schnelle Erholung, und aufgrund des Engagements von Mitarbeitern und Kunden bin ich optimistisch. Allerdings sind die nächsten Monate auch vom weiteren Verlauf von Corona abhängig.
Wie stehen Sie einer Maskenpflicht im Detailhandel gegenüber?
Wir haben uns immer an die Vorgaben der Regierung und der Kantone gehalten. Unser Krisenstab steht jederzeit bereit und ist sehr schnell mit der Umsetzung. Wir gingen auch weiter: Unsere Mitarbeiter haben nach der Öffnung Masken getragen, die Restaurants blieben zu Beginn geschlossen, und wir liessen weniger Kunden pro Fläche rein, als erlaubt gewesen wäre.
Wie kommen die neuen Angebote Second Life und das Leasing von Möbeln für Firmen an?
Nachhaltigkeit und Recycling sind den Schweizern seit Corona noch wichtiger geworden, ebenso günstige Preise. Da liegen wir mit Angeboten, wo man die Möbel nicht besitzt, richtig. Der Secondhand-Markt in der Schweiz wächst deutlich. Die Schweiz ist eines der ersten Länder, wo wir das testeten. Bis Weihnachten werden wir nun einige dieser Recycling Hubs in unseren Läden einführen. Nächstes Jahr folgen weitere.
Sind die Schweizer bereit, für nachhaltige neue Möbel mehr zu bezahlen?
Ikea will nachhaltige Produkte, die erschwinglich sind für alle. Die Portemonnaies der Leute werden dünner und nachhaltiges Leben darf kein Luxus sein. Gemäss Bundesstatistik ist nahezu jede siebte Person in der Schweiz von Armut bedroht.
Der österreichische Möbelgigant XXXLutz hat Möbel Pfister und Interio geschluckt. Hat das den Preiskampf angeheizt?
Jeder Mitbewerber macht uns besser und fördert auch das Interesse an Ausstattungen. Aber wir vergleichen uns nicht. Wir wollen mit nachhaltigen und erschwingliche Produkten punkten und diese auch bekannter machen.
Wann lancieren Sie den mobilen Einkaufskanal?
Die Lancierung der Ikea-App ist für nächstes Jahr geplant.
Fürs Wallis hat Ihre Vorgängerin für 2022 einen neuen Laden angekündigt. Haben stationäre Läden eine Zukunft?
Wir arbeiten weltweit an vielen neuen On- und Offline Formaten. Die Filiale im Wallis ist nach wie vor ein Projekt. Bevor wir weitere Weichen stellen, müssen wir die Erfahrungen aus der Corona-Zeit verarbeiten. Das Einkaufsverhalten hat sich verändert.
Wird Ikea nach dem Fall mit Mimi Jäger, die sich in einem Post im Internet über den Stau wegen einer «Black Lives Matter»-Demonstration aufgeregt und damit einen Shitstorm ausgelöst hat, weiter mit Influencern zusammenarbeiten?
Ikea ist eine sehr offene und transparente Firma. Wir wollen verschiedene Ansichten miteinbeziehen, darum werden wir weiter mit Influencern zusammenarbeiten. Denn so sind wir auf dem Laufenden, was auf der Welt abgeht. Wir müssen aufgeschlossen sein.
Und die Risiken?
Wenn wir einen Vertrag mit Influencern machen, dann haben wir abgeklärt, ob sie in unsere Strategie passen und die kulturellen Werte übereinstimmen. Manchmal müssen wir feststellen, dass die Zusammenarbeit nicht mehr stimmt.
Wieso ist Ihnen Social Media so wichtig?
Wir wollen nicht nur über Einrichtungen sprechen, sondern auch gesellschaftliche Standpunkte und Werte vertreten. Um die nächsten Jahre ein erfolgreiches Geschäft zu betreiben, muss man transparent, sehr offen sein für andere Perspektiven und zuhören können. Social Media konfrontiert uns mit verschiedenen Ansichten und eröffnet viele Dialogmöglichkeiten. Das braucht Mut und Neugierde, und manchmal ist es schmerzhaft. Aber es kommt sehr viel zurück.
Die Leitung von Ikea Schweiz ist seit Oktober 2019 die jüngste Station in der Karriere der Schwedin Jessica Anderen (50). Die frische Luft und das klare Wasser zu Hause in Zürich, wo sie mit ihrem Mann und zwei Teenagern lebt, sind für sie nicht selbstverständlich. Seit die studierte Ökonomin 1989 bei Ikea in Schweden startete, hatte sie Führungspositionen bei Ikea in China, Hongkong, Singapur und Australien inne. Sie kennt den Handel, war aber auch für die Beschaffung in Ländern wie Indien oder Pakistan zuständig.