SonntagsZeitung,

«Helft uns, das radikale Gedankengut lokal zu begrenzen, sonst kommt es zu euch»

Kinder im Zaatari-Camp. Foto: Flickr

Saba al-Mobaslat betreut syrische Flüchtlinge in einem jordanischen Camp. Das Vertrauen in die Politik hat sie längst verloren.

Claudia Gnehm, Simon Widmer

Zürich Die Jordanierin Saba al-Mobaslat weiss, was der Krieg in Syrien mit den Kindern macht. Sie arbeitet für das internationale Hilfswerk Save the Children im Flüchtlingscamp Zaatari, mit etwa 100 000 Bewohnern das zweitgrösste der Welt. Jeden Tag pendelt sie von der jordanischen Hauptstadt Amman ins 80 Kilometer entfernte Lager an der Grenze zu Syrien. Ihre Organisation übernimmt die Lebensmittelverteilung. Auf Besuch in Zürich erklärt sie, weshalb sie die Terror­organisation Islamischer Staat (IS) fürchtet – und was sie von der Schweiz erwartet.

Verstehen die Kinder, die im Camp Zaatari ankommen, weshalb Krieg ist?

Das verstehen die Kinder nie. Auch jene, die seit zwei Jahren im Camp sind. Sie fragen: «Wieso passiert uns das?», «Wieso stoppt niemand den Krieg?» Sie fragen, wieso der Westen in Libyen und im Irak interveniert hat, nicht aber in Syrien. Diese Kinder wissen viel. Wenn man in einem Land geboren wird, in dem Krieg herrscht, wird man schnell erwachsen. Manchmal sind die Kinder wütend auf die Welt. Sie fühlen sich im Stich gelassen.

Was passiert bei der Ankunft der Flüchtlinge?

Zuerst bekommen sie eine Mahlzeit. Danach informieren wir sie über die Infrastruktur, die Schulen und die sozialen Angebote. Manchmal haben wir das Gefühl, dass niemand zuhört, weil sie so geschockt sind. Sie haben nicht mit einem Camp inmitten der Wüste gerechnet. Die Menschen sagen: «Das ist ein Grab, wie sollen unsere Kinder in einem solchen Umfeld aufwachsen?» Sie brauchen drei bis vier Tage, um die Realität zu akzeptieren.

Wie sind die Kinder vom Krieg gezeichnet?

Die Kinder sind oft traumatisiert. Als ein Flugzeug über das Camp flog, rannten sie in alle Richtungen und schrien: «Wir können uns nirgends verstecken», «Assad ist hier und bringt uns um.» Selbst nach drei bis vier Monaten im Camp zeigen die Kinderaugen immer noch Panik, wenn ein Flugzeug vorbeifliegt. Es braucht 10 bis 30 Sekunden, bis sie merken, dass die Flugzeuge keine Bomben abwerfen werden. Mütter erzählen vom Bettnässen ihrer Kinder, von Albträumen und davon, dass die Kinder verstummen.

Die Kinder können nicht mehr sprechen?

Ein Mädchen brauchte drei Monate im Camp, um wieder zu reden. Sie sass ständig in einer Ecke und schloss ihre Augen. Sie hatte ihren Vater verloren. Dann zeichnete sie eine «Oud», eine arabische Laute, auf ein Blatt Papier und sagte, «das ist eine Oud». Später sagte sie, «Mein Vater spielte Oud, aber wenn ich meine Augen schliesse, kann ich mich nicht daran erinnern, wie mein Vater aussieht.» Jetzt wussten wir, weshalb dieses Mädchen in einer Ecke sass und die Augen schloss. Es versuchte die ganze Zeit, nicht zu vergessen, wie ihr Vater aussah.

Ist Kinderheirat ein Problem?

Kinderheiraten haben in den Kriegsgebieten Syriens um das Zwei- bis Dreifache zugenommen. Väter sagen uns, sie müssten ihre Töchter verheiraten, um sie zu schützen. Das ist nicht in Ordnung. Aber was können wir einem Vater sagen, der seine Familie nicht mehr ernähren kann? Man ist als humanitärer Arbeiter gefangen zwischen der Realität und der Welt der Moral und der Menschenrechte. Wenn wir aber die Lücke zwischen den Menschenrechten und der Realität nicht überbrücken können, wie können wir dann die Menschen dafür anklagen, dass sie die Realität leben? Sie müssen mit der Realität umgehen, und Kinderheirat ist ein Mechanismus dafür.

Wie können Sie die Zunahme von Kinderheiraten messen?

Wir vergleichen die aktuellen demografischen Daten mit der Situation in Syrien vor Kriegsausbruch. Im Kriegsgebiet Daraa, südlich von Damaskus, lagen die Kinderheiraten 2011 bei 13,2 Prozent, jetzt zwischen 26,9 bis 36 Prozent. Diese Zahlen sind wahrscheinlich viel zu tief, weil Kinderheiraten in Jordanien nicht registriert werden. Die Personen fälschen das Alter oder lassen die Heirat inoffiziell von einem Imam bestätigen. Wenn die Heiraten nicht registriert sind, bedeutet das, dass die Kinder aus dieser Ehe nicht registriert werden. Was passiert, wenn der Vater verschwindet? Die Kinder werden sich nirgendwo auf der Welt legal aufhalten können. Das zu sehen, ist sehr schmerzvoll.

Fühlen Sie sich hilflos?

Es gibt solche Momente. Am schlimmsten war es im Januar 2013, auf dem Höhepunkt der ­Syrienkrise. Da gab es Tage, an denen 6000 Flüchtlinge die Grenze überqueren wollten. Es war schlammig, kalt und es regnete. Die Kinder schauten mich an und sagten: «Wir dachten, wir bekommen ein Haus.» Mir fehlten die Worte.

Gibt es auch schöne Momente?

Wir haben drei Kindergärten mit 2- bis 5-Jährigen. Das sind Funken der Hoffnung inmitten des Chaos. Die Kinder haben ein Lächeln im Gesicht. Das gibt Hoffnung, dass eine Generation heranwächst, die nicht mit Gewalt verseucht ist. Manchmal schaffen wir es, die ­Kinder mit ihren Eltern zu vereinigen. Das sind herzzerreissende Momente, die einem viel geben.

Was sind die dringendsten Notwendigkeiten vor Ort?

Die Bedürfnisse sind endlos. In ­Syrien gibt es sieben Millionen Vertriebene, drei Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern, und sie benötigen alles, was Sie und ich benötigen – vom Arzt bis zur ­Unterkunft, Essen und Schule. Sie wollen heiraten, Menschen beerdigen – sie müssen leben. Wir spüren eine Müdigkeit bei den Geldgebern, weil sie schon genug Geld für diese Krise aufgeworfen haben. Die Europäer müssen sich aber bewusst sein, dass die Flüchtlingsströme nach Jordanien und Libanon nicht weit weg sind von ihnen. Vier Stunden brauchte ich von ­Amman in die Schweiz. Über ­Social Media kommt die Gewalt aber noch schneller hierher.

Wollen Sie uns Angst machen?

Nein, doch der Radikalismus ist sehr ansteckend. Wir appellieren an die Europäer, helft uns dieses radikale Gedankengut lokal zu begrenzen, sonst kommt es zu euch. Schon jetzt zieht der Islamische Staat (IS) junge Europäer an, um an ihrer Seite zu kämpfen. Es geht nicht mehr nur darum, Gutes zu tun und Organisationen wie Save der Children zu unterstützen. Es geht um unsere Verantwortung als globale Bürger. Darum, zu verhindern, dass der Radikalismus und Fundamentalismus bis vor die Tore Europas kommen.

Jordanien und Libanon sind am Limit. Können Sie den Radikalismus begrenzen?

Jedes Mal, wenn wir die Bedürfnisse eines armen Jordaniers, eines verletzlichen Libanesen, eines Syrers oder Iraki nicht erfüllen können, springen die Jihadisten, die Nusra und der IS ein. Wir ­verlieren die Masse und deren ­Unterstützung, weil wir den ­Bedürftigen nicht genug geben können. Wir müssen diesen Menschen andere Optionen als die ­radikalen Organisationen anbieten können.

Betätigt sich der IS bereits an humanitären Aktionen in Jordanien und im Libanon?

Sie arbeiten nicht direkt unter dem Namen IS. Dennoch beobachten wir immer mehr religiös motivierte Organisationen in der humanitären Hilfe. Sie verteilen Essen an arme Haushalte, sie bieten Geld und Sozialprogramme an. Wir sehen dahinter keine rein humanitäre Motivation. Diese Organisationen wollen der armen Bevöl­kerung vermitteln, dass sie besser auf ihre Bedürfnisse eingehen können als die Regierung und die internationalen Organisationen. Sie können die Ansichten der Massen verändern. Das fürchten wir am meisten.

US-Minister Chuck Hagel versprach letzte Woche, der IS werde jetzt auf internationaler Ebene bekämpft. Stimmt Sie das positiv?

Ich vertraue der Politik nicht mehr. Als Araberin, die seit 22 Jahren in diesen Konfliktzonen arbeitet, sehe ich nur die Jugend als ­Chance. Deshalb betrachte ich es als internationale Aufgabe, diesen jungen Menschen positive Alternativen bieten. 70 Prozent unserer Bevölkerung sind sehr jung. Wenn wir diesen Jungen keine Alternativen anbieten, werden sie eigene finden, von denen sie sich mehr ­versprechen.

Welche Rolle sollte die Schweiz übernehmen?

Die Schweiz ist mit ihrem Neutralitätsmodell gut positioniert als globale Vermittlerin. Doch sie darf sich nicht mit dieser Rolle zufrieden geben, sondern muss dafür sorgen, dass die Parteien an einen Tisch kommen und ihn nicht verlassen, bis eine politische Lösung steht. Die Schweiz ist das einzige Land, das Boden für eine gemeinsame Lösung anbieten kann und nicht nur mit seiner eigenen Position in die Verhandlungen kommt.

Sie wohnen nicht im Camp Zaatari. Wie gehen Sie abends jeweils in ihr Leben in Amman zurück?

Es fühlt sich an, als ob verschiedene Personen in meinem Körper wären. Das ist verstörend. Manchmal fühle ich mich schuldig, ein normales Leben zu führen und die Menschen im Elend zurückzulassen. Ich habe zwei Söhne. Mein 15-Jähriger machte mir zu Beginn der Syrien-Krise klar, dass er genau wisse, was mit den Flüchtlingen abgehe und mit ihnen mitfühle, doch er sagte: «Mama, ich werde trotzdem mein Leben weiter ­leben.» Mir ist bewusst, dass wir die Probleme nicht lösen können. Solange wir den Schmerz etwas lindern können, machen wir ­weiter.

Länderchefin von Save the Children Jordanien Saba al-Mobaslat. Foto: Save the children

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