Die zweite Corona-Welle führte vor Augen, dass der befürchtete Kollaps des Gesundheitssystems nichts mit fehlenden Intensivbetten zu tun hat. Vielmehr erwies sich der Mangel an Pflegefachkräften als grösstes Manko, wie Recherchen zeigen.
Extraschichten, Überstunden, Ferienstopp, aufgestockte Pensen – die Corona-Pandemie hat die Pflegefachleute beinahe ans Ende ihrer Kräfte gebracht. Zehntausende, die in den letzten zwölf Monaten alles aus sich herausgeholt haben, um für andere in der Not da zu sein. Um an vorderster Front zu helfen. Sie kämpfen um Leben und gegen das Coronavirus.
Auch heute noch, ein Jahr nach dem 20. März 2020. Damals, während des ersten Lockdowns, klatschte die ganze Schweiz für die Corona-Heldinnen und -Helden in Weiss. Was hat sich seitdem getan?
Die meisten Forderungen, die Pflegerinnen und Pfleger vor Monaten ins Feld führten – weil Applaus allein nicht reicht – sind nach wie vor nicht eingelöst. Die Pandemie-Situation hat sich zwar verbessert, der Arbeitsalltag für die systemrelevanten Berufsleute dagegen kaum.
Elvira Wiegers (56) rüttelt wach. «Ein Grossteil des Pflegepersonals arbeitet seit über einem Jahr in einem psychisch und physisch erschöpfenden Ausnahmezustand», weiss die Zentralsekretärin Gesundheit des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Wiegers spricht stellvertretend für das Bündnis Gesundheit, gegründet von VPOD, Syna und dem Berufsverband der Pflegefachkräfte (SBK). Dieses setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen ein.
Immer wieder warnt das Bündnis vor der «sehr angespannten und nicht mehr länger haltbaren Situation».
Die Last der Überstunden
Wiegers betont: «Das Personal erwartet endlich die volle Anerkennung seiner Arbeit.» Notwendig seien etwa nicht nur bessere Löhne, es müsse endlich auch die bedenkliche Personalknappheit ernsthaft angegangen werden.
Wie schlecht es den 91’400 Pflegefachkräften in Spitälern und den 100’000 Pflegenden in Alters- und Pflegeheimen und der Spitex – die den Grossteil der 300’000 Jobs im Gesundheitswesen ausmachen – tatsächlich geht, wird nirgends erhoben. Ein Gesundheitsmonitoring, wie es die Beteiligten vorschlugen? Fehlanzeige!
Ein Indikator für die Arbeitslast sind Berge von Überstunden, die viele Pflegeangestellte immer noch vor sich herschieben. Typisches Beispiel: das Kantonsspital Graubünden. Dort häuft das Pflegepersonal seit letztem Herbst in allen Bereichen Überstunden an. «Aber erst seit etwa zwei Wochen haben wir die Möglichkeit, Schritt für Schritt Überstunden abzubauen», sagt Spital-Sprecher Dajan Roman.
Aufgeschobene OPs werden nun nachgeholt
Corona-Altlasten auch im Spitalzentrum Oberwallis. Dort erwartet der Direktor Pflege, Kilian Ambord, dass der Überstundenberg bis zu Beginn der Sommerferien abgetragen ist – sofern die Pandemie-Situation stabil bleibe.
Laut Bundesrat Alain Berset (48) rollt derzeit die dritte Corona-Welle an. In Deutschland warnt Virologe Christian Drosten (48) davor, dass sich die Spitäler schon um Ostern wieder füllen könnten. Und es gibt wieder täglich steigende Fallzahlen in der Schweiz. Am Mittwoch die Meldung von 1858 neuen Corona-Ansteckungen, es gab 72 neue Spitaleinweisungen.
Sprecher Adrian Grob von der Berner Insel Gruppe, sagt, man helfe sich gegenseitig aus: «Um im Universitären Notfallzentrum und auf der Intensivstation in Bern die Covid-Pandemie zu überstehen, konnte die Berner Insel Gruppe jeweils Personal aus anderen Kliniken rekrutieren.»
Trotz der Entspannung auf den Intensivstationen und dem Rückgang von stationären Covid-19-Patienten habe man alle Hände voll zu tun. So würden viele Operationen, die wegen der zweiten Welle verschoben werden mussten, nun nachgeholt. Dafür brauchts wieder zusätzliche Kräfte, Überstunden sind programmiert.
Statt Applaus wäre Weiterbildung angesagt
Für Gesundheitspersonal-Expertin Wiegers ist das «permanente Anhäufen von Überstunden» ein klarer Hinweis auf Personalknappheit.
Die ständige Verfügbarkeit – gerade seit Ausbruch der Corona-Pandemie – mache es schwierig, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Viele steigen darum wieder früh aus dem Pflegeberuf aus, so Wiegers. Das trifft auf rund 2400 Pflegeleute jährlich zu.
Problematisch auch: Seit Beginn der Pandemie wurden die Aus- und Weiterbildungen extrem reduziert. Sie hätten kaum bis gar nicht mehr stattgefunden. Dabei haben die Pflegenden vor einem Jahr genau diese Investitionen ins Personal gefordert – auch hierfür gabs Applaus.
Besonders prekär sei die Situation in den Institutionen der Langzeitpflege und -betreuung, betont Wiegers.
Tatsächlich habe die Einhaltung der Schutzmassnahmen zu zusätzlichen Belastungen für das Personal geführt, sagt Monika Weder, Bildungsleiterin von Curaviva. Der Branchenverband vertritt über 2700 Alters-, Pflege- und Kinder-/Jugendheime mit mehr als 130’000 Angestellten.
Corona-Ausbrüche in Heimen verstärken Personalnot
Durch zusätzliche Corona-Ausbrüche bei Bewohnern und Mitarbeitenden sei es mit Quarantänen und Isolation rasch zu einem Personalmangel gekommen. Bei den 30’000 Angestellten der Spitex-Organisationen ist eine Linderung der Notsituation noch nicht grossflächig spürbar.
In fast allen Kantonen pflegen die Spitex-Organisationen aktuell Corona-Patienten, wie Spitex-Schweiz-Sprecherin Francesca Heiniger weiss. «In zehn Kantonen werden nach wie vor auch frühzeitig entlassene Covid-19-Patientinnen und -Patienten zu Hause versorgt, um die Spitalkapazitäten zu entlasten.» Kein Wunder: Bei der Spitex ist «Erschöpfung» derzeit ebenfalls ein geläufiges Wort.
Intensiv- und Notfallmedizin Fachkräfte dringend gesucht
Die Pandemie hat den Notstand beim Pflegepersonal deutlich gemacht. Aktuell herrscht in Spitälern und Pflegezentren schweizweit dasselbe Problem. «Der Fachkräftemangel in der Berufsgruppe Pflege ist nach wie vor sehr gross, die Rekrutierung von qualifiziertem Pflegepersonal eine grosse Herausforderung», sagt Maria Rodriguez, Sprecherin des Zürcher Stadtspitals Triemli und Waid, stellvertretend für viele andere.
Das Spital investiere viel Zeit, um sich als Top-Arbeitgeber zu positionieren und um die Rekrutierungskanäle zu bewirtschaften. Je nach Ausbildungsstufe sei es sehr schwierig, Pflegepersonal zu finden. Das bestätigt auch die Insel Gruppe Bern. «Bei den gut ausgebildeten Pflegefachkräften klafft eine grössere Lücke als etwa bei den Fachangestellten Gesundheit.»
Auch Kilian Ambord, Direktor Pflege des Spitalzentrums Oberwallis, konstatiert: «Im Bereich der Nachdiplomstudien in Anästhesie-, Intensiv- und Notfallpflege herrscht in der gesamten Schweiz ein extrem starker Fachkräftemangel.» Er sei froh, dass er in diesem Bereich die Stellen besetzen könne. «Einzig auf der Intensivstation entwickelt sich die Nachrekrutierung zunehmend schwieriger.»
Der Mangel zeigt sich auch in der Anzahl ausgeschriebener Stellen, die sich gemäss Jobradar der Datenfirma X28 seit letztem Jahr weiter erhöht hat. Per Mitte Februar wurden auf den Jobportalen 2293 (Vorjahr: 1952) Fachkräfte Gesundheit (FaGe) gesucht. Für Pflegefachkräfte mit höherer Ausbildung FH und HF waren 6668 Jobs (Vorjahr: 6278) zur Besetzung ausgeschrieben.
Entschädigung für Corona-Stress: Prämien, Stundengutschriften, Ferientage
Ein Monatsgehalt als Corona-Prämie, das haben der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), der Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) und die Gewerkschaft Syna für die Pflegenden nach dem ersten Lockdown gefordert.
Dort, wo etwas raussprang, mussten sich die Pflegefachkräfte mit eher symbolischen Belohnungen zufriedengeben. So erhält das am meisten belastete Personal am Unispital Basel eine einmalige Zulage von 80 Franken. Am Kantonsspital Aarau bekommen Pflegefachleute einen bis drei zusätzliche Ferientage gutgeschrieben. Die Berner Insel Gruppe zahlte Mitarbeitenden für 2020 eine Sonderprämie von maximal 500 Franken – abhängig vom Arbeitspensum. Das Spitalzentrum Oberwallis hat den Pflegefachkräften, die während der ersten und der zweiten Corona-Welle in direktem Patienten-Kontakt standen, über 2500 Arbeitsstunden gutgeschrieben.
Neben einer Prämie für alle Mitarbeitenden verteilte das Luzerner Kantonsspital an die Angestellten in der Intensivpflege zusätzlich einen Gutschein. Die städtischen Spitäler in Zürich zahlen dem Personal Corona-Zulagen zwischen 250 und 1500 Franken, je nach Belastungssituation. Das Unispital Zürich richtete 2600 Mitarbeitenden aus der Pflege, Medizintechnik und Therapie, die während der ersten und zweiten Welle direkt in der Pflege und Betreuung von Covid-Patienten tätig waren, einen Corona-Bonus aus.
Auch das Kantonsspital Graubünden zahlte dem Personal, das stark in die Bekämpfung der Pandemie involviert war, eine Corona-Prämie. Üppige Belohnungen fehlen auch im Kantonsspital St. Gallen. Es hat für letztes Jahr 700 statt 200 Angestellten eine Leistungsprämie bezahlt.
Auf der grosszügigen Seite ist Zug. Das Zuger Kantonsspital überwies mit dem März-Lohn 2021 einen Corona-Bonus von bis zu 1200 Franken. Zudem erhalten alle Spitalangestellten für die Zeit von März 2020 bis Februar 2021 zusätzlich 100 Franken brutto pro Monat. Das Pflegepersonal des Kantons Waadt erhält für seinen Einsatz eine Prämie von 900 Franken. Das Gesundheitspersonal des Freiburger Spitals wurde mit 500 Franken und drei Ferientagen zusätzlich belohnt.