Der Bewerbungsprozess für die Berufsbildung ist ins Stocken geraten. Lehrbetriebe schliessen seit Wochen kaum mehr Lehrverträge ab. Sie können keine Eignungstests und kein Selektionsschnuppern durchführen. Dabei müssten Jugendliche vor der Berufswahl Gas geben können.
Die obligatorische Schule endet für 100’000 Schülerinnen und Schüler im Juli. Drei Viertel davon möchten nach den Sommerferien eine berufliche Grundbildung starten. Doch die Corona-Krise hat den Anstellungsprozess jäh gebremst. «Derzeit sind die Abschlüsse neuer Lehrverträge rückläufig», sagte Rémy Hübschi (43), oberster Bildungschef des Bundes, gestern vor den Medien. Da viele Betriebe geschlossen seien, überrasche ihn das nicht. Das Staatssekretariat für Bildung und Forschung überlege sich deshalb Massnahmen wie Brückenangebote.
Die Lehrbetriebe fühlen sich durch den Lockdown blockiert. «Wir konnten seit Wochen kaum Eignungstests und Schnupperlehren durchführen», sagt Oliver Maeder (52), Bildungschef des Autogewerbe-Verbandes Schweiz (AGVS). Die Verbandsfirmen stellen jeden Herbst 2700 Lehrlinge ein. Doch damit die Firmen Lehrverträge abschliessen könnten, seien die Eignungstests entscheidend, so Maeder.
Über 15’000 offene Lehrstellen
Er ist ernüchtert: «Im März und April gab es keinen einzigen Lehrvertragsabschluss.» Derzeit weise der Verband 895 offene Lehrstellen aus – vom Automobil-Mechatroniker bis zur Automobilfachfrau. Deutlich mehr als im Vorjahr. Trotzdem sei es nicht sinnvoll, Schülern ohne Test einen Lehrvertrag anzubieten. «Wenn die Lehrabbruchquote 2020 wegen mangelhaften Bewerbungsverfahren massiv ansteigt, ist niemandem gedient», betont er.
Das Dilemma von Betrieben, Schülern und Lehrern erlebt Urs Casty (53) hautnah. Er ist Gründer und Inhaber der grössten privaten Lehrstellenpattform Yousty.ch. Statt regem Betrieb herrscht auf seiner Plattform Flaute. «Die Zahl der offenen Lehrstellen stagnierte die letzten vier Wochen bei 15’500», sagt Casty. Am meisten offene Lehrstellen gibt es für das KV (1996), gefolgt von der Detailhandelsfachfrau (1607). Im März gingen 25 Prozent weniger Online-Bewerbungen ein als im Vorjahr. Die Bewerbungen für Schnupperlehren brachen gar um 42 Prozent ein.
«Schüler, Lehrer und Eltern sind stark verunsichert. Aber es ist wichtig, den Bewerbungsprozess so gut wie möglich voranzutreiben», betont Casty. In diesen Wochen sollten sich die Jugendlichen um Schnuppereinsätze kümmern, damit sie sich für das Lehrjahr 2021 bewerben könnten. «Gleichzeitig gibt es immer noch Jugendliche, die noch nichts gefunden haben und jetzt langsam am Verzweifeln sind, weil das Schulende sehr nahe ist», führt er aus.
Stau bei Eignungstests erwartet
Ein Lichtblick für Casty: «Bis jetzt kenne ich wenige Firmen, die ihre Lehrgänge zurückgezogen haben.» Helfen würde auch der Digitalisierungsschub der Firmen in den letzten drei bis vier Jahren. «Wir haben 10’000 Firmenkunden, die komplett auf digital umgestellt haben», sagt Casty. Die Schüler könnten online Berufe kennenlernen, bei Firmen über Video schnuppern und sich bewerben. Zudem hat Yousty einen Online-Eignungstest entwickelt, den Schüler von zu Hause aus (gratis bis Ende August) durchführen können, weil die Testzentren geschlossen sind – gemäss Bund bis Mitte Mai. Danach rechne er mit einem «Teststau».
Casty erwartet, dass einige Schnupperlehren unter Einhaltung der Vorgaben bereits ab Mitte Mai und spätestens ab 8. Juni durchgeführt werden können. Eines der vielen Unternehmen, die mit der digitalen Bewerbung gefordert sind, ist das Transport- und Logistikunternehmen Planzer. Ausbildungschef Simon von Arx will noch 60 Lehrstellen besetzen – in den Bereichen Kaufmännische Lehre, Logistik und Strassentransport. Übers Internet könne den potenziellen Kandidaten viel über die Berufe und den Betrieb und die neuen Kollegen gezeigt werden. Aber: «Am Schluss wird es noch verkürzte Schnuppertage benötigen, um den Ausbildungsvertrag fixieren zu können.»