SonntagsBlick / Blick,

China-Kenner Uli Sigg: «Wir dürfen uns nicht naiv zur Schlachtbank führen lassen»

Kunstmäzen und China-Kenner Uli Sigg: „China hat uns in vielem schon überholt.“

China-Experte Uli Sigg erklärt, wo die Schweiz dem Übernahmehunger von Chinas Firmen Grenzen setzen muss. Woher die Angst vor China kommt. Und warum die Chinesen ehrgeiziger sind als wir Schweizer.

 

Die Schweiz soll sich von den Chinesen «nicht naiv zur Schlachtbank führen lassen», fordert China-Kenner Uli Sigg (72). Der ehemalige Botschafter der Schweiz in China und passionierte Kunstsammler arbeitete in den 80er-Jahren in China, als die Chinesen noch nicht bienenfleissig waren. Er beschönigt auch nicht, dass die Schweiz zu passiv auftritt in China.

BLICK: Herr Sigg, woher kommt die Angst vor den Chinesen?
Uli
Sigg: Die Angst rührt unter anderem daher, dass wir die «Soft Power» von China nicht kennen. Bekannt sind bei uns Frühlingsrollen, Pandas, das Thema Tibet. Aber die Kultur kennen wir nicht. Daher sind wir derzeit mit Negativem konfrontiert; den Übernahmen, der Übermacht, der «gelben Gefahr».

Zeigt sich denn diese Softpower im Geschäftsleben?
Dort kommt sie nicht unbedingt zum Ausdruck. China hat indes traditionelle Werte wie etwa die Bedeutung der Familie und Respekt gegenüber älteren Menschen, von denen wir lernen könnten. Aber einiges widerspricht unserem Menschenrechtskonzept. Dieses basiert auf dem Schutz des Einzelnen vor dem Staat. Bei den Chinesen geht es um die Gemeinschaft. Der Staat soll das Kollektiv vor dem Egoismus des Einzelnen schützen.

Was sind Ihre Erfahrungen, wenn Chinesen bei Schweizer Firmen einsteigen?
Manchmal läuft es gut, und die Besitzer verhalten sich so, wie wir es auch von einem westlichen Investor erwarten. Andere Unternehmen machen ungezügelte Einkaufsorgien wie etwa die HNA-Gruppe.

Was befürchten Sie von dieser überschuldeten chinesischen Privatfirma, die Swissport und Gategroup übernommen hat?
Diese Firmen werden wohl einen anderen Eigentümer erhalten. Der chinesische Staat will dieses Konglomerat auseinandernehmen und einzelne Teile dann anderen chinesischen Firmen übertragen.

HNA ist ein schlechtes, privates Beispiel. Fährt Syngenta besser mit der staatlichen Chemchina als Besitzerin?
Bei einem Staatskonzern kann man ein anderes Verhalten erwarten als bei einer Privatfirma. Staatsfirmen haben klare Direktiven, wie sie im Ausland investieren müssen. Sie können nicht nur auf Gewinnoptimierung aus sein. Der Staatskonzern muss im Interesse der Nation handeln.

Gehen Staatsfirmen besser mit Schweizer Angestellten um?
Schon aus Reputationsgründen dürfte der Umgang besser sein. Zudem haben Staatsfirmen Zugang zu fast unbeschränkten Mitteln, wenn es sein muss. Was das längerfristig für Syngenta heisst, kann man noch nicht beurteilen.

Wo liegt das Problem am Kaufappetit Chinas in der Schweiz?
Er kann für uns zum Problem werden, weil sie genau auf die Positionen zielen, die erfolgreich sind in der Welt. Aber wir dürfen nicht vergessen; als die westliche Industrie am längeren Hebel war, haben wir auch zugekauft, wo immer sich eine Gelegenheit bot. Seit die Schwellenländer auch kapitalkräftig sind, tendieren wir im Westen dazu, unsere Wirtschaft mit neuen Benimmregeln zu schützen. Wir haben die Goalpfosten verschoben. Das ist nicht gerade fair.

Bern diskutiert erst jetzt, wie man dem chinesischen Übernahmehunger Grenzen setzen kann. Haben wir verschlafen?
Nein, noch nicht. Es ist schwierig, ein neues Regelwerk aus dem Boden zu stampfen. In Bern und auch bei anderen westlichen Regierungen weiss man noch nicht, wie weit man Investitionen einschränken soll. Wir haben im Westen freie Bewegung von Kapital, und wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir dieses Spiel abstellen wollen. Das kann sich auch mal gegen uns richten.

Was halten Sie von einer Lex Koller für Übernahmen in Infrastrukturbereichen wie etwa der Energie?
Bei nationalen Infrastrukturen sollte der Staat die Kontrolle nicht ungeprüft preisgeben. Auch wo nationale Abhängigkeiten bestehen, sollte eine Bewilligungspflicht eingeführt werden. Ein Verbot fände ich aber nicht gut.

Welche Branchen sind im Visier der Chinesen?
Strategisch interessant ist sicher die Agrarwirtschaft, wie wir es mit Syngenta erlebt haben. Es könnte auch eine Bank treffen. Grundsätzlich ist in der Schweiz kein Unternehmen zu gross, um nicht ins Visier der Chinesen zu gelangen.

Die Chinesen haben in der Schweiz grössere Freiheiten zu investieren als wir in China.
Wir haben dieses Gegenrecht noch nicht. Aber überall, wo die Chinesen bei uns investieren wollen, müssten sie uns dieses Recht in China auch einräumen.

Das Gegenrecht müsste aber der Schweizer Staat einfordern?
Ja, im Moment findet das auf Ebene des politischen Dialogs statt. Ausser im Bankwesen gibt es noch keine rechtliche Basis in der Schweiz, die dem Bund dieses Handlungsrecht verschaffen würde.

Müsste die Schweiz auf Barrieren nicht selber mit Schranken reagieren?
Das ist ein dorniges Problem. Wir haben derzeit wohl noch keine Institution, die solche Barrieren hochziehen kann. Und wenn man sagt, man sei für Freihandel, dann sollte man ihn auch leben. Das heisst dennoch nicht, dass man sich naiv zur Schlachtbank führen lassen sollte.

Laut SP-Nationalrätin Jacqueline Badran führt China einen Wirtschaftskrieg um Schlüsseltechnologien. Hat sie recht?
Es ist ein Wettbewerb der Systeme. Das Wort Krieg ist zu hart. Die Chinesen haben sich einen bestimmten Entwicklungspfad auf die Fahne geschrieben und verfolgen den konsequent. Wir bewegen uns in einem anderen System, das uns mal grosse Vorteile verschaffte. Nun haben die anderen aufgeholt, während wir lavieren.

Inwiefern hat die Angst vor China auch mit dem Mangel an Demokratie und Menschenrechten zu tun?
Das ist ein Faktum. Die Regierung in China hat einen enormen Durchgriff, weil sie keine Rücksicht auf ein durchaus bestehendes Rechtssystem nimmt. Jedenfalls solange dadurch der Machterhalt nicht in Frage gestellt wird. Deshalb können die Behörden mit weit höherer Geschwindigkeit handeln. Und wir können eben nicht der ganzen Welt unser System aufdoktrinieren – so sehr wir uns das wünschen.

Überholen uns die Chinesen deshalb etwa beim Umweltschutz?
Sie können viel schneller korrigieren. Vor zwei Jahren war die Luft in Peking eine Katastrophe. Heute gibt es nurmehr wenige Tage mit starkem Smog. Das kann man nur im chinesischen System machen. Sie haben mit einer unglaublichen Geschwindigkeit die Luft verbessert, das hätte ich nie gedacht. Ähnlich rasch dürften sie auch das Elektroauto durchsetzen.

Hat der Einparteienstaat einen Vorteil bei der Einführung von Innovationen?
Die Chinesen sagen, sie regieren mit wissenschaftlichen Methoden anstatt mittels Volksentscheid. Wissenschaftliche Fachgremien und Think Tanks können sich auch täuschen. Aber dieser Ansatz erlaubt schnelles Handeln. Man darf dieses System nicht unterschätzen, weil es durchaus zu guten Gesamtlösungen führen kann.

War es naiv zu glauben, wenn die Wirtschaft sich entwickelt, dann kommt die Demokratie?
Die Wirtschaftsentwicklung öffnet das Denken. Das habe ich selber erlebt. Ab 1980 brachten wir Hunderte Chinesen zu Schindler nach Ebikon zur Ausbildung. Sie gingen ganz anders zurück. Aber das heisst nicht unbedingt, dass sie so leben wollen wie wir. Das chinesische System ist aus der Sicht vieler Länder sehr erfolgreich und die wollen nun nicht mehr unseren Weg der Demokratie gehen.

Sind die Chinesen immer noch die grossen Kopierer, oder kopieren wir schon lange mehr als etwa das Velosharing?
Wir werden je länger je mehr auch kopieren. Der chinesische Messengerdienst WeChat hat etwa einen Zahlungsmodus – da sind die Chinesen viel weiter als der Westen. Es läuft schon fast niemand mehr mit Bargeld rum. In vielen Sachen haben sie uns schon überholt.

WeChat wird aber von der Regierung überwacht.
Wir können dieses System nicht einfach kopieren. Die chinesischen Tech-Firmen können so tief in die Privatsphäre eindringen, weil sie de facto keinen Daten- und Persönlichkeitsschutz kennen. Die Regierung kann jede Transaktion und jedes E-Mail einsehen.

Hat China schon das Know-how, die Daten auszuwerten?
Bei der Auswertung ist niemand sonst auf dem Stand der Chinesen. Die chinesischen Firmen müssen dem Staat die Daten geben und dieser kann sie auch nutzen. Hiermit sind wir bei einem Überwachungsstaat, den man so noch nie gesehen hat. Diese Kombination schafft eine neue Welt.

Die Chinesen sehen sich nicht verantwortlich für das US-Handelsdefizit, auch, weil ein grosser Teil der China-Exporte von westlichen oder US-Firmen stammt. Was sagen Sie?
Die Defizite entstehen aus diversen Gründen. Weil China für westliche Konzerne Teile importiert und sie verarbeitet und dann zum vollen Wert reexportiert – zum Beispiel das iPhone. Das Handelsdefizit USA–China ist verfälscht. Die Zahl sagt wenig aus. Die Amerikaner schauen nur auf die Handelsbilanz und nicht auf die ganze Zahlungsbilanz.

Wem schadet der Handelskrieg mehr?
Mutmasslich schadet der Handelskrieg dem amerikanischen Konsumenten am Ende mehr als den Chinesen.

Erwarten Sie weitere Gegenmassnahmen von den Amerikanern?
Ja, Trump kann nicht vom Baum heruntersteigen – und Xi Jinping auch nicht, weil er nicht der Weichling sein kann, der nachgibt. Das Szenario erlaubt zurzeit keinen guten Ausgang.

Den Chinesen geht irgendwann das Pulver aus, wenn sie nur für 200 Milliarden importieren. Die Amerikaner können auf 450 Milliarden Importen aus China Zölle erheben.
Ja, aber die Chinesen können die Amerikaner auf andere Arten einteilen – mit administrativen Massnahmen etwa. Wenn die chinesischen Behörden Dienst nach Vorschrift machen, dann gute Nacht. Sie könnten anfangen, die US-Firmen ganz anders zu behandeln. Da sind die Chinesen kreativ. Das kann für Amerikaner sehr beschwerlich werden.

Wo steht die Schweiz in diesem Konflikt?
Für unsere Autozulieferer spielt es schon eine Rolle, ob etwa mehr oder weniger BMW nach China gingen.

Sind die Chinesen immer noch so hungrig auf Aufstieg?
Die Mittelklasse in China ist besonders motiviert. Ein Grund ist die Teuerung, der andere die hohen Kosten von Kindern. Dem Kind muss man die bestmögliche Bildung geben. Man will den richtigen Kindergarten, damit sie in die richtige Primarschule kommen, dann Mittelschule und Top-Uni. Es geht viel härter zu und her als bei uns und die Menschen sind viel kompetitiver. Darum wollen und müssen sie mehr arbeiten. Im Vergleich dazu sind wir einfach viel bequemer. Die Chinesen stehen an einem anderen Ort.

Wo?
Es ist wie bei uns in den 50er- und 60er-Jahren. Damals ging es steil aufwärts und man ging willig zur Arbeit, weil man gesehen hat, dass der Mehreinsatz mehr Wohlstand bringt. Nun hat unsere Gesellschaft einen materiellen Sättigungsgrad erreicht und strebt nach anderen Zielen. China tickte bis anfangs 80er-Jahre allerdings auch anders.

Wie meinen Sie das?
Als ich in den 80er-Jahren in China bei Schindler arbeitete, verdiente der Chef das Doppelte des Unqualifiziertesten. Wir meinten, die Chinesen seien bienenfleissig. Dem war gar nicht so, weil dem Einzelnen ein Mehreinsatz nichts brachte.

Sie sind ein grosser Sammler von chinesischer Gegenwartskunst. Sind die Chinesen schon so weit, dass sie selber chinesische Kunst erwerben?
Inzwischen hat es eine chinesische Schicht mit Geld, die auch Gegenwartskunst kauft. Die traditionelle chinesische Vorstellung von Kunst meint etwas Schönes, Harmonisches. Dagegen ist die Gegenwartskunst kritisch und öffnet Denkräume. Das sind zwei unterschiedliche Welten. Wenn Sie sich in der einen Welt befinden, ist es sehr schwierig, die andere zu verstehen.

Wie erklären Sie sich, dass gerade aus Schwellenländern wie China so viel aufregende Gegenwartskunst kommt?
Diese aufstrebenden Länder sind in der Kunst immer wichtiger, weil sie uns Alternativen aufzeigen. In deren Kunst geht es auch noch um mehr als bei uns. Hier hat die Glitzer- und Glamourkunst einen wichtigen Platz – auch wenn es noch anderes gibt. Dort geht es um das Ganze, um das echte und harte Leben. Diese Spannung erzeugt eine andere Kunst. Ich sage nicht, das eine sei gut, das andere schlecht. Aber es ist eine andere Kunst.

Wenn es den Chinesen immer besser geht, dann werden sie nicht mehr die Kunst machen, die Sie interessiert.
Weil viele chinesische Künstler in den globalen Mainstream wollen, der von der Westkunst dominiert wird, kommt nun vieles ähnlicher daher. Aber es wird immer auch eigenständige chinesische Gegenwartskunst geben.


Der Schweizer China-Pionier

Uli Sigg (72) gründete 1980 für den Lift- und Rolltreppenhersteller Schindler das erste Joint Venture eines westlichen Industriekonzerns mit einem chinesischen Staatsbetrieb überhaupt. Der einstige Spitzenruderer und Jurist startete seine berufliche Laufbahn als Wirtschaftsjournalist. In den Neunzigerjahren war er Schweizer Botschafter in Peking für die Volksrepublik China, Nordkorea und die Mongolei. Der China-Kenner ist weltweit bekannt für seine Sammlung chinesischer Gegenwartskunst. Ein Teil davon ist an seinem Wohnort, dem Schloss Mauensee LU, ausgestellt. Der Luzerner sitzt in diversen Verwaltungsräten.

https://www.blick.ch/news/wirtschaft/china-kenner-uli-sigg-fordert-mehr-haerte-gegen-den-roten-drachen-wir-duerfen-uns-nicht-naiv-zur-schlachtbank-fuehren-lassen-id15007836.html

 


Diese Artikel könnten ebenfalls interessant sein:

«Mehr Frauen im Arbeitsmarkt könnten Zuwanderung bremsen»

SonntagsBlick / Blick

Arbeitsmarktexperte George Sheldon räumt mit dem Mythos auf, dass der Schweizer Arbeitsmarkt für Deutsche nicht mehr attraktiv ist. Er ist überzeugt, dass die Schweiz weniger Fachkräfte «importieren» müsste, wenn das Potenzial der Frauen besser erschlossen würde.

weiterlesen

Frauen drohen Job-Nachteile: Die Krise ist weiblich

SonntagsBlick / Blick

Wirft die Corona-Krise Frauen im Arbeitsmarkt in alte Muster zurück? Wieso Führungspersonen und Gewerkschaften davon überzeugt sind, dass es Fortschritte bei der Gleichstellung und einen Ausbau der Kinderbetreuung unbedingt braucht.

weiterlesen