Schweiz verliert wegen Novartis-Verkäufen Kontrolle über Impfstoffe
Claudia Gnehm
Bern Die Schweizer impfen seit 1893 die ganze Welt. Es fing an mit dem Pockenpräparat, den das Schweizerische Serum- und Impfinstitut Berna erfunden hat. Dieses Jahr aber stellt der US-Pharmakonzern Johnson & Johnson, dem das Traditionsunternehmen Berna Biotech seit 2010 gehört, seine Impfstoffproduktion in der Schweiz ein, wie Johnson-&-Johnson-Sprecher Thomas Moser sagt. Betroffen sei unter anderem ein Grippeimpfstoff von Berna. Das Unternehmen galt lange als der letzte Rettungsanker für eine heimische Produktion im Fall einer Pandemie. Da Novartis seine im Ausland produzierende Grippeimpfsparte ebenfalls verkaufen wird, verliert die Pharmahochburg Schweiz auch die Kontrolle über die Produktion im Ausland.
Daniel Koch, Leiter Abteilung übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), sieht kein Problem wegen der vollständigen Abhängigkeit. Koch sagt: «Die Schweiz kann gut versorgt werden, auch wenn Novartis seine Impfsparte, später die Grippeimpfstoffe, an ausländische Firmen verkauft.» Das BAG habe bereits Alternativen für die Berna-Impfstoffe. Koch: «Da Johnson & Johnson dieses Jahr die Grippeimpfstoffproduktion einstellt, wird der schweizerische Markt für Grippeimpfstoffe durch die Firmen Abbott, GSK, Sanofi Pasteur MSD und vorerst Novartis beliefert.» Und wenn die Novartis-Verkäufe abgeschlossen seien, dürften sich die neuen Besitzer weiterhin am Schweizer Markt beteiligen. «Bei der Lieferung wird die Schweiz gleich behandelt wie andere Länder», sagt Koch.
Angela Merkel beanspruchte 2009 die Novartis-Impfstoffe für Deutschland
Das sieht Immunologie-Professor Beda Stadler von der Universität Bern anders. Die Erfahrungen der letzten Epidemien würden zeigen, dass sich die Schweiz in einer echten Notsituation nicht auf eine Gleichbehandlung verlassen könne. «Bereits die Hysterie rund um die Schweinegrippe hatte ausgereicht, damit sich US-Präsident Barack Obama direkt einschaltete», sagt Stadler. Die Amerikaner sollten nur mit Grippeimpfstoffen ohne beigemischte Adjuvantien, streckende Hilfsstoffe, geimpft werden. Grund dafür waren Schadenforderungen, mit denen die US-Regierung im Jahr 1967 konfrontiert war, weil im Grippeimpfstoff Adjuvantien enthalten waren, die angeblich eine Autoimmunerkrankung auslösten. Diese Nebenwirkung wurde nie bewiesen. Dennoch führte die grosse Nachfrage der USA nach Impfstoffen ohne Adjuvantien im Jahr der Schweinegrippe 2009 in Europa zu Knappheit. Entsprechend erhielten die Europäer mit Adjuvantien gestreckte Grippeimpfungen.
Der Streit um die Gleichbehandlung entfachte sich darauf in Europa an Novartis. Die Basler stellten als Einzige auf dem Kontinent einen moderneren Impfstoff her, der ohne den heiklen Zusatz auskam. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beanspruchte die Novartis-Impfstoffe prompt für Deutschland. Für Stadler ist das ein Lehrstück über die Gefahr der Abhängigkeit.
Die Verbindung Schweizer Ärzte (FMH) zeigt sich gelassen. Gert Printzen, Mitglied des FMH-Zentralvorstands, hat keine Bedenken betreffend Gleichbehandlung: «Für die Herstellerfirmen sind die Grippeimpfstoffe ein Business, in dem die Moral oder das Nationalgefühl nicht ausschlaggebend sind.»