Laurent Freixe, Nestlé-Chef Europa, über die Geissel Jugendarbeitslosigkeit und «Alliance for Youth», die grösste europäische Wirtschaftsinitiative für neue Jobs.
Interview: Claudia Gnehm
Wie nah gehen Ihnen die Schicksale der Jugendlichen, die keinen Job finden?
Als Vater bin ich sehr besorgt – wie viele hier bei Nestlé –, besorgt um meine Kinder und alle Jungen. Sohn und Tochter befinden sich noch in der höheren Ausbildung. Es ist mir sehr wichtig, der nächsten Generation Chancen zu bieten. Wir brauchen diese Generation im Arbeitsprozess, damit sie die Zukunft Europas aufbaut.
Wo sehen Sie das Problem?
Europa läuft Gefahr, an Relevanz zu verlieren in der Welt. Es gibt 500 Millionen Europäer in einer Welt von über sieben Milliarden, bald acht Milliarden Menschen. Welche Zukunft hat die nächste Generation, wenn wir die Jugend nicht dazu bringen, Innovationen und Lösungen zu schaffen?
Alle möchten Nestlé für gute Zwecke einspannen. Wieso geben Sie Ihren Namen her für eine Jugendinitiative?
Die Arbeitslosigkeit der Jugend ist für die Gesellschaft und Wirtschaft Europas sehr kritisch. Arbeitsplätze werden in der Privatwirtschaft geschaffen. Wir sind überzeugt, dass wir einen wichtigen Beitrag leisten können zu diesem grossen sozialen Problem. Solange die Jugendarbeitslosigkeit in Europa so hoch bleibt, wird es keinen Wirtschafsaufschwung geben. Längerfristig ist der soziale Zusammenhalt gefährdet, wenn die Jugend aussen vor gelassen wird.
In Europa hat Nestlé seit Start der Initiative «Alliance for Youth» Anfang Jahr 5000 Jobs für Junge geschaffen – 20 000 sollen es bis 2016 sein. Wie viele davon sind zusätzliche Stellen?
Wir schaffen einerseits neue Festanstellungen mit neuen Projekten und Investitionen. Andererseits brauchen wir Nachfolger für die Generation der Babyboomer, die demnächst in Pension gehen. Bei den Trainee- und Internships schaffen wir 10 000 Angebote, indem wir die sowieso geplanten Stellen etwa um die Hälfte aufstocken.
Sind das einfach billige Arbeits- plätze oder beschäftigen Sie die Trainees später weiter?
Die Trainees und Lehrlinge arbeiten nicht gratis. Sie verdienen mindestens 60 Prozent des jeweils national gängigen Minimallohns. Für uns ist das ein guter erster Kontakt mit Nachwuchskräften. Passen sie zu Nestlé, vertreten sie unsere Werte, wollen sie bleiben, haben sie bei uns eine Zukunft.
Starten Sie spezielle Projekte, um Junge zu beschäftigen?
Nestlé ist gross, und wir haben viele Projekte. Die Traineeships und Internships sollen innerhalb von realen Arbeiten stattfinden. In Griechenland beispielsweise haben wir 100 junge Menschen eingestellt, um Nescafé Dolce Gusto zu promovieren – ein sehr konkretes Verkaufsprojekt.
Wie viel kostet die Initiative?
Es ist eine Investition in die Zukunft. Die Kosten sind marginal im Vergleich zu ihrer Wirkung auf die künftige Generation und ihre Integration in den Arbeitsmarkt. Wir rechnen mit ein paar Millionen Franken.
Wer macht sonst noch mit?
Wir arbeiten jetzt mit 150 Firmen zusammen. 14 davon sind global ausgerichtet, die anderen sind lokale Partner. Wenn portugiesische KMU sich verpflichten, eine Handvoll Junge einzustellen, kann das ein grösserer Beitrag sein als unser Beitrag mit 20 000. Sie wollen alle zu einem effizienten Übergang zwischen Ausbildung und Beruf beitragen. In der Schweiz sind Firmenich und Adecco mit von der Partie. Total wollen wir bis 2016 europaweit mindestens 100 000 Arbeitsmöglichkeiten für Junge anbieten.
Laut Nestlé geht es um die grösste europäische Wirtschaftsinitiative, die je für die Jugend lanciert wurde. Können es sich Konzerne überhaupt leisten, nicht mitzumachen?
Unternehmen, die eine Langfristperspektive und eine positive Vision von Europa haben, müssen mitmachen. Natürlich. Was ist die Zukunft Europas ohne Integration der Jungen? Die Arbeitskräfte in Europa überaltern wie die Gesellschaft. Deshalb müssen alle dazu beitragen, die Jungen an Bord zu holen. Egal, ob individuell oder kollektiv. Das ist keine PR-Übung.
Das glauben nicht alle. Es sieht nach PR aus.
Die Initiative kommt nicht von der Kommunikationsabteilung. Wir sind eine kleine, besorgte und enthusiastische Gruppe aus meinen Geschäftsleitungsmitgliedern, die seit zwei Jahren daran arbeitet. Wir treffen uns jede Woche, um das Projekt voranzubringen. Ich bin immer dabei.
Bestrafen Sie Zulieferer, die nichts von der Jugendoffensive wissen wollen?
Nein, wir wollen inspirieren und Anreize schaffen. Die bisherige Reaktion war überwältigend positiv.
Gibts für die Nestlé- Ländergesellschaften eine Verpflichtung?
Nestlé ist sehr dezentralisiert. Wir diskutierten mit jeder Ländertochter einzeln. Ihre Unterstützung war für mich essenziell. Sie engagieren sich sehr. Die Angestellten nehmen das sehr ernst. Nestlé investierte immer stark in das Humankapital, besonders in die Jugend. Ich selber habe meine Karriere bei Nestlé angefangen. Es war nicht schwierig, die Länder¬gesellschaften zu überzeugen. Die Manager wollen die finanziellen und sozialen Ziele erfüllen.
Sind diese Ziele lohnrelevant?
Ja, Teile des Bonus sind abhängig vom Erreichen von Zielen im Rahmen der Initiative. Wir sind nicht nur finanziell getrieben. Wir wollen nicht nur einen Mehrwert für Firma und Aktionäre schaffen, sondern auch für die Gesellschaft.
Gilt das auch für Ihren Lohn?
Ja, als Europa-Chef bin ich da auch miteinbezogen.
Braucht die Wirtschaft die Politik noch, um soziale Probleme zu bekämpfen?
Politiker sind wichtig. Es braucht einen gesamtgesellschaftlichen Einsatz. Regierungen können Rahmenbedingungen verbessern und sie subventionieren. Alle müssen sich engagieren, auch der Bildungs- und der Privatsektor. Wir geben nicht vor, die Lösung zu haben – ganz und gar nicht. Wir glauben aber, einen sinnvollen Beitrag zur Lösung liefern zu können.
Wie eng arbeiten Politik und Wirtschaft heute zusammen?
Die Krise hat uns gezwungen, die Probleme mit einem offenen Blick zu betrachten und die Agenden von Politik und Wirtschaft gemeinsam auszurichten. Nur so können wir etwas bewegen. Bei der kreativen Suche nach Lösungen ist die Politik heute wahrscheinlich offener denn je, Firmen als Teil der Lösung zu sehen. Nach den vielen Initiativen der EU-Kommission für die Jugend ist jetzt die Wirtschaft am Zug.
Wie wird man zur Jobmaschine in Europa?
Indem man an Europa glaubt und hier investiert: Wir bauen neue Fabriken in der Schweiz, Deutschland und Polen. Allein in der Schweiz schaffen wir ein paar Hundert neue Stellen bis 2015. In der Ukraine und Portugal errichten wir Dienstleistungszentren. Wir investieren in bestehende Fabriken. Natürlich gibt es bei 100 000 Angestellten stets Pensionierungen und offene Stellen. Mit den Baby¬boomern werden bis 2024 rund 20 Prozent unserer Angestellten in den Ruhestand treten.
Gehen die Arbeitsplätze für die Jungen auf Kosten der älteren Mitarbeiter?
Nein, keineswegs, doch der grosse Effort gilt den Jungen. Auf neue erfahrene Fachkräfte können wir nicht verzichten, daran wird sich nichts ändern.
Viele Firmen bauen nur ab.
Wachstum zu generieren, ist in Europa schwierig, besonders ohne Investitionen und Innovationen. Es ist die Aufgabe der Unternehmen, der Wirtschaft und Gesellschaft, diesen Teufelskreis zu durchbrechen . Unsere Vision ist es, mit Investitionen und Innovationen Wachstum zu initiieren und dadurch Jobs schaffen – und so eine positive Spirale in Bewegung zu setzen.
Behaupten Sie, Nestlé könne Jobs kreieren ohne Wachstum?
Wir können in Europa Stellen schaffen, weil wir in Europa wachsen. Wir wachsen, weil wir investieren und Innovationen auf den Markt bringen. Ohne wäre es unmöglich. Damit die Firmen investieren, müssen sie in Europa langfristige Per¬spektiven sehen. Nestlé sieht solche Opportunitäten und Chancen. Das ist eine unserer Stärken – wir glauben, in gesättigten Märkten wachsen zu können.
Aber die Musik spielt doch in Wachstumsländern wie China und Indien, Brasilien und Russland.
Ja, wir wachsen in den Bric-Ländern, aber auch in Europa. Seit dem Beginn der Krise haben wir in Europa jedes Jahr zugelegt. Zwar weniger stark als in den Schwellenländern. Doch dafür gibt es demografische Erklärungen, die Bevölkerung Europas wächst ja nicht. Die Marken Nespresso und Dolce Gusto und Petcare beweisen, dass neue Umsatzvolumen mit Investitionen und Innovationen möglich sind.
Nestlé findet Europa interessant. Aber das ist nicht die Regel.
Lange war man negativ gegenüber Europa. Angesagt waren Schwellenländer. Doch die Stimmung hat bei vielen unserer Geschäftspartner gedreht. Sie investieren verstärkt in Europa.
Kann Nestlé in Europa neue Märkte schaffen, ohne anderen Marktanteile wegzuschnappen?
Wir machen beides. Wenn wir erfolgreich sein wollen, kreieren wir neue Branchen: Der Kaffeemarkt ist die letzten zehn Jahre mengenmässig wenig gewachsen. Aber wertmässig hat sich der Markt verdoppelt – dank Innovationen wie Nescafé Dolce Gusto. Dasselbe geschieht mit Tiernahrung. Das Marktvolumen legte zu, und wir gewannen Marktanteile, weil wir die Bedürfnisse der Konsumenten besser erfüllen als die Konkurrenz.
Wo in Europa legt Nestlé zu?
Wir hatten letztes Jahr in vielen Teilen Europas ein gutes Wachstum, inklusive Portugal und Spanien.
Sprechen wir von einem hohen einstelligen Wachstum?
In Europa haben wir 2013 und im ersten Quartal 2014 mehr verkauft, und dies in einem Umfeld ohne Wachstum. Das ist ein gutes Resultat.
Und in der Schweiz?
Die Schweiz trug 2013 viel zum Wachstum und Profitabilität bei, trotz Shoppingtourismus.
Für die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative liegt nun eine Quotenlösung auf dem Tisch. Konzernchef Bulcke will für die Schweiz keine neuen Investitionsentscheide treffen, bevor die Umsetzung klar ist.
Hierzulande erwirtschaften wir nur zwei Prozent des Konzernumsatzes. Um vom Hauptsitz in Vevey aus globale Strategien entwickeln zu können, brauchen wir Chinesen, Brasilianer, Russen und viele andere. Wir wollen die besten Talente aus der ganzen Welt in Vevey haben. Die Annahme der Initiative führt zu Einschränkungen. Aber wir vertrauen auf den Pragmatismus des Bundesrats, um wie in der Vergangenheit praktikable Lösungen zu finden.
Wenn das nicht passiert?
Dann müssten wir andere Lösungen suchen. Wie unser Verwaltungsratspräsident und unser CEO sagten, wollen wir keinen einzigen Forscher verlieren. Es ist klar, wenn wir sie nicht mehr hierher bringen können, werden wir neue Wege finden. Wir befinden uns in einer digitalen Welt.
Dann arbeiten Sie nur noch am Bildschirm zusammen?
Die bevorzugte Variante bleibt, die Leute in die Schweiz zu holen. Wenn das nicht gelingt, müssen wir uns etwas einfallen lassen.
Wann treffen Sie wieder neue Investitionsentscheide für die Schweiz?
In den letzten zehn Jahren haben wir Investitionen im Umfang von 3,2 Milliarden Franken beschlossen – wie beispielsweise die neue Nespresso-Fabrik in Romont für rund 300 Millionen, die 2015 in Betrieb geht und 400 Menschen beschäftigt. Das müssen wir jetzt ausführen.
Was ist mit neuen Plänen?
Wir haben immer neue Pläne in Abklärung. Zuerst müssen wir die grossen Projekte in der Pipeline umsetzen. Wir schaffen jedes Jahr Hunderte von Arbeitsplätzen hierzulande. Wenn die neue Nespresso-Fabrik in Betrieb ist, sehen wir weiter. Es ist noch etwas früh, um über künftige Pläne zu reden.